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Sie war Punk, Putzfrau, Prostituierte und Pornorezensentin: Heute ist die Französin Virginie Despentes Starautorin. Im Interview gewährt sie Einblicke in ihr bewegtes Leben.
Oktober in Paris, die Sonne scheint, im nahen Park Buttes-Chaumont pfeifen die Vögel, und im nahen Bistro sitzen die Flaneure auf der Terrasse. Einige erkennen Virginie Despentes, wie sie, gross gewachsen und ganz in Schwarz, zum Interviewtermin erscheint. Sie bestellt einen Schwarztee. Alkohol rührt sie nicht mehr an. Vorbei die Hardcore-Zeiten, als sie in Lyon lebte, alles konsumierte, was Gott verboten hat, abends auf den Strich ging und Skandalbücher schrieb. Vom dortigen Quartier «Despentes» – zu Deutsch: «Abhänge» – hat sie sich mit 25 ihren neuen Namen gegeben. «Ich mag dieses Bild der Schräglage», meint sie. «Im Leben geht es auch meist auf- oder abwärts; man lebt selten im Flachland geruhsam vor sich her.»
Virginie Despentes: Ich denke nicht. Ich versuche, die Männer zu verstehen. Auch zu verstehen, was in den Köpfen so vieler Männer vorgeht, die verwirrt sind, rassistische und fremdenfeindliche Sprüche von sich geben. Wenn ich mich rächen wollte, würde ich keine Bücher schreiben.
Das sage nicht ich! Ich habe gute Beziehungen zu befreundeten Männern, fühle mich von ihnen auch nicht speziell verraten. Alle sind nicht gleich. Zweierbeziehungen Mann-Frau sind allerdings schon kompliziert. Deshalb bin ich heute lieber mit einer Frau zusammen.
Das nicht, hingegen entscheiden sich viele Leute dafür, ihre Homosexualität nicht zu leben, weil sie den gesellschaftlichen Preis dafür nicht zahlen wollen. Ich hatte mich ganz einfach von einer Frau angezogen gefühlt und Lust, diese Geschichte auszuleben – und zwar ganz. Es war eine sehr positive Erfahrung. Noch heute fühle ich mich weniger unter Druck, sexuell «gut» sein zu müssen.
Durchaus. Ich lebe jetzt – lassen Sie mich rechnen – seit dreizehn Jahren in lesbischen Beziehungen. Ich sage nicht, dass das immer so sein muss. Aber es ist einfacher; und auch die Frage des Alterns ist weniger wichtig, wenn man mit einer Frau zusammen ist.
Ich lese viel Bücher und lache dabei gerne. Das will ich auch meinen Lesern nicht vorenthalten. Ab und zu kann es in den extremsten, schwärzesten Momenten etwas Spott geben. Dann kann man besser atmen.
In den 90er-Jahren war Pornografie in Paris fast ein kulturelles Phänomen, mit Preisverleihungen, den «Hot d’or», und Regisseuren mit eigener Handschrift. Heute ist dies durch die Konkurrenz von Internet weitgehend verloren gegangen.
Nicht nur. Es gab auch weibliche Pornostars, die einen Status wie Fussball- oder Musikstars hatten. Ich hatte unter ihnen gute Freundinnen; einige spielten auch im Film «Baise-Moi» (Verfilmung ihres Erstlings, Anm. d. Red.) mit. Damals gab es wirklich gute Streifen, die auch unsere Bilder und Fantasien weiterbrachten. Heute gibt es kein Geld mehr für solche Filme.
Der Motor ist derselbe – die sexuelle Erregung. Abgesehen davon ist es von Frau zu Mann, aber auch von Mensch zu Mensch verschieden, was einem gefällt oder was einen abstösst. Rocco Siffredi (italienischer Pornodarsteller, Anm. d. Red.) sagte mal, nach seiner Erfahrung seien es die Frauen, die explizite oder extreme Szenen wollten. Ich sprach mit vielen Frauen, wenn ich Rezensionen von Pornofilmen verfasste. Frauen haben da keine sanfteren oder romantischeren Ansichten. Der französische Regisseur Marc Dorcel drehte seine romantischsten Filme für Männer.
Ich spreche mit ihnen viel darüber. Was die Transen angeht, habe ich das Gefühl, dass viele Männer den Umgang mit ihnen schätzen würden, wenn es gesellschaftlich zugelassen wäre.
Ja, das scheint Männer zu erregen. Aber die Transen sind auch sehr feminin. Und sehr überzeugend, weil sehr überzeugt von ihrer Umwandlung, die viel Mut erforderte. Die leben ihre Feminität, ihr Frausein voll aus, und das zieht die Männer an.
Ich glaube nicht. Es ist eher die Suche nach einer Form von Feminität. Nehmen Sie die Drag Queen Rupol, eine Schönheit. Könnten alle Leute ihre Sexualität auf diese Art ausleben, gäbe es viel mehr Mischformen, denke ich. Der reine «mec» (Französisch für Kerl) mit einer reinen «meuf» (Frau), das wäre vielleicht gar nicht so häufig. Die Wahrheit ist oft komplexer, subtiler. Und dann ändert man sich selbst! Mit 20, 30 oder 50 Jahren hat man nicht unbedingt die gleichen sexuellen Bedürfnisse. Die Orientierung kann durchaus ändern, wenn man ehrlich auf sich hört.
Diese Prozesse interessieren mich sehr. Man ändert sich, man wird älter, es geht bergauf, bergab. Und zwar für den Einzelmenschen wie für die Gesellschaft. Beides versuche ich in «Vernon Subutex» zu beschreiben.
Das stimmt – und oft wird auch der Zweck verfehlt. In dieser neuen Besessenheit mit dem Körper ist es mir, als fühlte man sich heute als der Privatbesitzer seines Körper-Unternehmens. Man kauft Muskeln, Schönheit, Jugend. Ich habe dafür teilweise Verständnis: Der Körper ist schliesslich das, worin man ständig steckt. Was ich aber nicht verstehe, sind die 12- oder 14-Jährigen, die nur noch mit Instagram leben, als wähnten sie sich in einer Realityshow. Sie haben eine ganz andere Beziehung zu ihrem Körper. Er wird zu ihrer Pose, ihrem Design.
Dieses Gefühl ist sehr stark. Ich glaube, die ganze Generation der Fünfzigjährigen kennt dieses Gefühl vom Verlust einer ganzen Welt. Internet ist ja ganz lustig, doch es wirft unser Leben über den Haufen. Die Welt, die wir in den 80er-, 90er-Jahren kannten, ist am Verschwinden.
Ich habe die Debatte genau verfolgt und glaube weiterhin nicht, dass das ein guter Entscheid war. Auch nicht für die Prostituierten. Das wird ihre Arbeitsbedingungen nicht verbessern. Im Gegenteil: Es wird sie in die Hinterzimmer vertreiben. Dort arbeiten schon viele Chinesinnen für einen Hungerlohn. Ihre Lage verschlechtert sich ständig.
Ja, es gibt zwei Lager. Ich gehöre zum Pro-Sex-Lager, wie man in den USA sagt. Ich glaube, es braucht die Arbeit der Prostituierten, als richtige Arbeit, wohlgemerkt, mit einer korrekten Entlöhnung. Ich bin auch für die Pornografie. In diesem Metier habe ich viele Freunde, auch Striptiseusen.
Es ist sehr angenehm. Was nicht heisst, dass es ewig dauern muss. Die Pariser Kritiker sind sehr einheitlich – und sehr wechselhaft.
Ach, es gibt schon Bücher, die mich anöden. Die lege ich nach 30 Seiten weg. Man kann sowieso nie alle der 350 Bücher lesen, die in Paris zum Bücherherbst erscheinen. Auch wenn ich es liebe, zu lesen. Diesen Sommer habe ich sicher 50 Bücher geschafft.
Ich wäre ziemlich schockiert (lacht). Aber ich fände den Inhalt auch sehr aufrichtig. Ich war damals gerade mal 23 Jahre alt und schwer drauf, wie die Punkmusik jener Zeit. Heute mag ich Rap. Gewiss, die Rapper lassen schreckliche, hypersexistische Dinge raus. Aber ihre Musik, die sitzt. Die passt in die Zeit.
(Überlegt) Das wäre Motörhead. Als Begleitmusik unerreicht. Sehr effizient, sehr «wuähh!».
«Life»? Ja, ich mag Musikerbiografien.
Es ist ein gescheites Buch. Wenn einer dieser Rocker überlebt hat, hat er meistens etwas zu erzählen.
Als ich ihn das letzte Mal live sah, waren nach dem Konzert alle glücklich, und niemand lästerte über Grossvater-Rock. Keine Ahnung, wie Jagger das mit 74 hinkriegt.
Individuell ja. Skeptischer bin ich, in welcher Welt das sein wird.