Startseite
International
Diesen Sonntag ist Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Vladimir Shkolniy war 1986 als sogenannter Liquidator im verseuchten Gebiet im Einsatz. Heute lebt der 70-Jährige in Opytne – einem Dorf an der Kriegsfront.
«Freitag und Samstag wurde geschossen. Es gibt einen Keller, wir gehen dort vielleicht eine Stunde runter und kommen danach wieder zurück», erzählt Vladimir Shkolniy. Er lebt in Opytne, einem Dorf an der Frontlinie des Krieges in der Ostukraine. Die Schützengräben der ukrainischen Armee liegen nur ein paar Hundert Meter vom Dorf entfernt. Noch immer gibt es täglich Verstösse gegen den Waffenstillstand.
Jetzt sitzt Shkolnyi im Wohnzimmer. Kater Kusa ist auf seinem Schoss. Das Tier weicht kaum von seiner Seite. Auch Ehefrau Zineida und Schwägerin Maria Kubarkova sind im Wohnzimmer auf einem Sofa. Die Drei sind ein Teil der noch 37 Verbliebenen von Opytne, das einst rund 800 Einwohner zählte. Fahles Licht dringt von aussen durch zwei Fenster ins Zimmer. An einer Wand hängen ein Kalender mit einem kirchlichen Ikonenbild und Fotos. Daneben hat es Einschusslöcher.
Vladimir Shkolnyis Leben ist eng verwoben mit den nationalen Tragödien der Ukraine. Derzeit ist es der seit fast sechs Jahren andauernde Krieg mit den prorussischen Separatisten, der sein Dorf heimgesucht und kein Gebäude in der Ortschaft verschont hat. Doch Shkolnyis Biographie und diejenige seines erst vor einem Jahr verstorbenen Schwagers Nikolay Kubarkov beinhaltet auch die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Beide wurden 1986 nach dem Atomunfall in die Westukraine abkommandiert. Sie mussten Dienst leisten als sogenannte Liquidatoren, die den Auftrag hatten, die Folgen des Atomunfalls zu minimieren. Ein Leben, zwei Katastrophen. Wieviel hält ein Leben aus? Warum nur das alles? «So ist das Schicksal. Wir haben keinen Einfluss», sagt Shkolnyi.
Im April 1986 ereignete sich in Tschernobyl im Nordwesten der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik die Nuklearkatastrophe, deren Folgen international spürbar waren. Bei der Simulation eines Stromausfalls geriet der Reaktor Nummer vier ausser Kontrolle, die Folge waren Explosionen im Atomkraftwerk.
Im Vergleich zum Vorfall in Fukushima vor einigen Jahren wurde in Tschernobyl ein Mehrfaches an Radioaktivität freigesetzt. Tausende von sogenannten Liquidatoren – auch rekrutiert aus jungen Soldaten sowie Reservisten – wurden eingesetzt, um das Unglück einzudämmen, den Sarkophag zu bauen und die Umgebung zu dekontaminieren.
Als Vladimir Shkolnyi wie viele andere Anfang Oktober zu einem Armeesammelpunkt aufgeboten wurde, hatte man ihnen direkt und offiziell nicht gesagt, dass es nach Tschernobyl gehen würde. Bei der Stadt Belaja Zerkov, 80 Kilometer nördlich von Kiew, hat man dann die Zwangsverpflichteten umgekleidet und per Auto nach Oranoe gefahren. Dort befand sich die Unterkunft, 20 Kilometer zum Einsatzort in Tschernobyl.
Vladimir Shkolnyi arbeitete lediglich 800 Meter vom Unglücksreaktor Nummer 4 entfernt. Er hat Fahrzeuge repariert. «Dort waren alle Autos mit radioaktivem Material eingedeckt, die durfte man eigentlich gar nicht berühren. Um die Hände zu waschen gab es Boiler, es hatte viel Staub, gegessen haben wir aus Konserven. Als Schutz gab es nur eine Maske mit Gazetuch», erinnert er sich.
Ich war dort 40 Tage, mein Verwandter weniger, so um die 25 Tage. Er war direkt auf dem Reaktordach und hat Graphit nach unten geworfen. Er hat schnell Radioaktivität aufgenommen. Und dann kam der Krebs».
Shkolnyis Schwager Nikolay Kubarkov erlitt beim Einsatz Kehlkopfkrebs. 1997 wurde er operiert, arbeitete danach nicht mehr. Als Liquidator wurde er mit 50 Jahren pensioniert. «Wir haben ihn sehr gehütet – ich habe alles gemacht, Wasser bringen und so weiter, damit er keinen Stress hat», sagt die Witwe Maria Kubarkov.
Im Januar letzten Jahres verstarb Nikolay schliesslich. Maria Kubarkov erzählt, ihr Mann habe erklärt, es wäre besser gewesen, sich dem Zwangseinsatz zu widersetzen. «Er sagte, vielleicht wäre es besser, wenn ich zwei Jahre im Gefängnis verbracht hätte, dann hätte ich keinen Krebs gehabt und wäre gesund».
Vladimir Shkolnyi seinerseits erlitt vor einigen Jahren einen Herzschlag. «Ich habe keine Invalidengruppe, keine Invalidenrente, gar nichts bekommen. Die Pension die ich kriege, ist aufgrund des Alters. Wegen Tschernobyl habe ich nichts bekommen. Man gibt nur 210 Grivna für die Ernährung – wie kann man für dieses Geld leben?» Er sei zur Abklärung in Spitälern gewesen. Danach sei die Bestätigung per Post gekommen, dass seine Krankheit nicht zu Tschernobyl passe.
Heute leben Vladimir Shkolnyi, seine Frau Zineida und Schwägerin Marai Kubarkova in einem zweistöckigen Wohnblock in Opytne. Im Dorf gibt es kein fliessend Wasser, keinen Strom und kein Gas. Alleine auf ukrainischer Seite der Front liegen rund 40 Dörfer wie Opytne in einer Art grauen Zone und sind teilweise oder ganz von der Aussenwelt abgeschnitten.
Entweder sind sie militärisch abgeriegelt, weil die Armee wichtige Positionen in der Nähe hält oder auch wie im Falle von Opytne, weil die Zufahrt über die Donezker Flughafen-Umfahrungsstrasse gefährlich ist. An dieser Strasse gab es schon Tote, da das Gelände vermint ist. Nur alle zwei Wochen sorgt eine militärisch-zivile Kooperationsstelle für den Transport von Zivilisten aus und nach Opytne. Nur selten kommen Hilfsorganisationen vorbei. Wer sich selbst helfen kann, nimmt einen ungeteerten Weg über die Felder. Der ist aber, wenn nicht gerade Schnee liegt, schlammig und schwer passierbar.
Der Dorfbewohner Rodion Lebedev, so etwas wie die gute Seele hier, vermutet schon länger, dass der ukrainische Staat die Ortschaft aufgeben will. Die 37 Verbliebenen von Opytne leben dort, weil sie sonst nirgends hin können oder wollen.