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Zwei Monate vor den Wahlen am 7. Oktober kommt der Kampf ums Präsidentenamt richtig in Fahrt. Dominiert wird er von illustren Figuren.
Vergangene Woche hat der Kampf um das höchste Amt im grössten Land Lateinamerikas mit dem ersten TV-Duell der Präsidentschaftskandidaten begonnen. Dass die Wunden noch nicht verheilt sind, die die Amtsenthebung von Brasiliens linker Präsidentin Dilma Roussef vor zwei Jahren aufgerissen haben, das zeigt ein Blick auf die Umfragen.
An erster Stelle liegt ein Häftling, der aller Voraussicht nach gar nicht antreten darf: Rousseffs Mentor, Ex-Präsident Luiz Inácio «Lula» da Silva von der linken Arbeiterpartei (PT), verurteilt zu zwölf Jahren Haft wegen Korruption. Die Verurteilung ist laut dem ausgerechnet unter Lula (er regierte Brasilien von 2003 bis 2011) eingeführten Gesetz der «Sauberen Weste» ein Ausschlussgrund. Landauf, landab haben Provinzgerichte aber Kniffe gefunden, das Gesetz zu umgehen. Bei Lula muss nun das oberste Wahlgericht entscheiden – und das dürfte ziemlich genau hinschauen, um keinen höchstrichterlichen Präzedenzfall zu schaffen.
Für alle Fälle hat Lula einen Plan B: den libanesischstämmigen Ex-Bildungsminister Fernando Haddad, der als sein Vize ins Rennen steigt. Haddad war einst Bürgermeister von São Paulo, scheiterte aber beim Wiederwahlversuch kläglich und dümpelt auch jetzt in Umfragen weit hinten – was sich jedoch ändern könnte, wenn Lula selbst nicht antreten dürfte und stattdessen Haddad seine Unterstützung schenken würde.
Lula verspricht seinen Wählern, die Kürzungen bei der Sozialhilfe ebenso rückgängig zu machen wie die Privatisierungsbemühungen, die der unbeliebte Interims-Präsident Michel Temer eingeleitet hat. Banken mit Wucherzinsen will er durch Strafsteuern gängeln, die Wirtschaft durch ein staatliches Investitionsprogramm ankurbeln. Sein Wahlkampf wird sich aber vor allem auf emotionaler Ebene abspielen. Lula stilisiert sich zum Opfer des Establishments – und setzt voll auf die Karte Nostalgie. Unter Lulas Präsidentschaft stiegen rund 28 Millionen Brasilianer in die Mittelschicht auf – dank Sozialprogrammen, die durch den Boom der Rohstoffe wie Öl und Eisenerz finanziert worden sind. «Politik ist hässlich, aber Lula ist der einzige Politiker, der jemals etwas für die Armen getan hat», sagt Josué Eduardo, ein Gärtner aus dem Nordosten Brasiliens. So denken die meisten der 30 Prozent Brasilianer, die Lula ihre Stimme geben wollen.
Auf Platz zwei der Umfragen rangiert mit 17 Prozent ein Duo aus rechtsextremen Militärs: Der populistische Abgeordnete und Exmilitär Jair Bolsonaro von der Sozialliberalen Partei (PSL) und General Hamilton Mourao. Sie versprechen eine harte Hand gegen die Kriminalität, die in den vergangenen Jahren angestiegen ist, und präsentieren sich als Alternative zur «verrotteten, politischen Klasse». Das Duo verherrlicht die Militärdiktatur, hält Schwarze und Homosexuelle für minderwertig und hat bereits Kontakte zum ehemaligen Wahlkampfberater von US-Präsident Donald Trump, Steve Bannon, geknüpft, der weltweit eine rechtspopulistische Allianz schmieden will.
«Würden wir auch nur halbwegs unsere Geschichte kennen, wäre Bolsonaro nicht Kandidat», beklagt der Journalist Ivo Herzog, dessen Vater von der Militärdiktatur umgebracht wurde. Wirtschaftlich will Bolsonaro einen neoliberalen Kurs fahren. Darauf zumindest lassen Bolsonaros Interview-Aussagen schliessen. Ein detailliertes Polit-Programm hat bisher keiner der Kandidaten vorgelegt.
Lachender Dritter der Polarisierung könnte in der Stichwahl im Oktober der Kandidat der in Brasilien eher konservativen Sozialdemokraten, Geraldo Alckmin, werden. Der 65-jährige Exgouverneur von São Paulo gilt zwar als Langweiler, wird aber von acht Parteien unterstützt und wird deshalb rund 44 Prozent der amtlich zugeteilten Werbezeit im Fernsehen zur Verfügung haben. Er gibt sich versöhnlich und moderat und hat es bisher trotz diverser Vorwürfe geschafft, ungeschoren aus verschiedenen Korruptionsprozessen herauszukommen.
Ansonsten finden sich auf der Wahlkampfliste bekannte Namen wie die Umweltschützerin Marina Silva, der Ex-Banker Henrique Meirelles oder die Sojakönigin Katia Abreu. Trotz der Inhaftierung zahlreicher korrupter Politiker und Unternehmer ist eine politische Erneuerung in Brasilien aber ausgeblieben. Das ist in den Regionen am stärksten zu spüren: Im Bundesstaat Rio beispielsweise hat der ehemalige Bürgermeister Eduardo Paes zum fünften Mal die Partei gewechselt und tritt nun als Gouverneur an. Paes brüstet sich damit, die Olympischen Spiele nach Rio geholt zu haben. Er wurde wegen Korruption verurteilt und acht Jahre lang von Wahlen ausgeschlossen – ein Berufungsgericht hat ihn kürzlich aber trotzdem zugelassen.
45 Prozent der Brasilianer sind angesichts dieser Umstände politikmüde und pessimistisch, wie das Statistikinstitut Ibope ermittelt hat. Nach Ansicht der Politologin Lara Mesquita liegt diese Verdrossenheit auch an der Wirtschaftskrise. Jeder vierte Brasilianer gilt inzwischen als arm.
Wählen müssen sie trotzdem, denn in Brasilien herrscht Wahlpflicht. Ein weiterer Grund für die Politikmüdigkeit ist, dass sich am politischen System wenig ändert. Insbesondere die Zersplitterung des Kongresses wird bestehen bleiben, was den neuen Präsidenten zu breiten Allianzen zwingt, die in Brasilien traditionell nicht auf ideologischer Gemeinsamkeit gründen, sondern auf Pfründen, die den jeweiligen Parteien und Abgeordneten zugeschachert werden. Erst ab 2022 treten Reformen in Kraft, die Parteien unter 1,5 Prozent Stimmenanteil die Wahlkampffinanzierung entziehen und zu einer stärkeren Konzentration der Parteienlandschaft führen dürften. Eine Neuerung gibt es aber schon in diesem Wahlkampf: Private Wahlkampffinanzierung ist verboten; eine Folge diverser Korruptionsskandale der Vergangenheit.