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Soziologin Bilgin Ayata erklärt, warum die Kontroversen um die Wahlkampfauftritte in Europa halfen, Erdogan-Anhänger zu mobilisieren. Für sie entscheidet sich in den nächsten zehn Tagen das Schicksal der Türkei.
Bilgin Ayata: Die Ergebnisse in Europa entsprechen in etwa den Erfahrungswerten der drei bisherigen Urnengänge seit 2014, als das Auslandsvotum erstmals umgesetzt wurde. Der Anteil von Ja- und Nein-Stimmen hängt mit ihren parteipolitischen Präferenzen zusammen. Die türkische Gemeinde in der Schweiz etwa, wo die Oppositionsparteien CHP und HDP stark sind, hat die Verfassungsreform mit über 60 Prozent abgelehnt.
Die Strategie von Erdogan und der AKP, mit gezielten Provokationen Gegenreaktionen auszulösen, ist im Sinne der Regierung voll aufgegangen. Dort, wo es Streit über Wahlkampfauftritte gab, ist die Wahlbeteiligung gestiegen. Erdogan hat es dadurch geschafft, Wähler im Ausland zu mobilisieren. Die AKP wusste, dass es eine knappe Entscheidung geben würde und hat die Mobilisierung der Auslandstürken ganz eindeutig als neues politisches Spielfeld entdeckt.
Ich gehe davon aus, dass es weniger eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Referendum war, als vielmehr eine Reaktion und ein Bekennen zu Erdogan. Ich würde hier auch von einer Protestwahl sprechen: Viele junge Migranten und Migrantinnen fühlen sich in dem Land, in dem sie leben, nicht akzeptiert. Unter diesem Gesichtspunkt könnte man sagen, dass die teilweise starken Reaktionen europäischer Politiker und Medien auf die Provokationen der AKP falsch waren: Man hätte nicht inhaltlich darauf einsteigen dürfen.
Wichtiger wäre es gewesen, diesen jungen Menschen mit türkischen Wurzeln klar zu verstehen zu geben, dass sie willkommen sind, sich hier in Europa politisch zu integrieren und mitzuentscheiden. Einige dieser jungen Türken konnten bei diesem Referendum zum ersten Mal überhaupt in ihrem Leben an einer Abstimmung teilnehmen, weil sie keine Staatsbürgerschaft ihrer Wahlheimat besitzen. Diesen Umstand hat Erdogan in seinen Reden immer wieder betont.
Die Bedingungen bei diesem Referendum waren alles andere als fair. Deshalb haben die knapp 50 Prozent Wähler, welche die Opposition unter diesen widrigen Umständen hat mobilisieren können, eine hohe politische Aussagekraft.
Interessant ist, dass das Verfassungsprojekt der AKP von allen Seiten unter Druck geraten ist: sowohl von der säkular-sozialdemokratischen CHP und der pro-kurdischen HDP und von rechts von vielen Wählern der ultra-nationalistischen MHP. Deren Wähler haben die Ja-Parole ihrer Parteiführung missachtet.
Die Türkei wird nach dieser Abstimmung eine Phase der Instabilität durchleben, denn das Referendum zeigt, dass die Opposition dagegen stark ist. Die Verhältnisse in der Türkei haben zwangsläufig auch Auswirkungen auf die Situation in Europa.
Durch die neuartige politische Zusammensetzung des Nein-Lagers könnte es auch in Europa zu interessanten neuen Konstellationen kommen. Wenn diese Opposition es schafft, sich gemeinsam gegen die AKP und das Präsidialsystem zu stellen, muss es nicht immer zwangsläufig zu Konflikten zwischen den rechtsextremen «Grauen Wölfen» und den Anhängern der PKK hinauslaufen.
Vieles hängt nun vom Verhalten der grössten Oppositionspartei CHP ab. Rechtlich gesehen dürfte es schwierig werden, den Entscheid der obersten Wahlbehörde YSK noch umzustürzen. Die Justiz in der Türkei ist schon lange nicht mehr unabhängig. Doch der Kampf gegen den Ausgang des Referendums ist vielmehr politisch als juristisch. Entscheidend ist, ob diejenigen, die Nein gestimmt haben, die Legitimität dieses umstrittenen Ergebnisses akzeptieren oder sich dagegen wehren.
Die nächsten zehn Tage sind für die Türkei entscheidend: Bis zur Veröffentlichung der endgültigen Wahlergebnisse müsste das Nein-Lager mit kraftvollen Demonstrationen klarmachen, dass es das Referendum und die Auszählung nicht akzeptiert. Die AKP versucht bereits jetzt, die ersten Reformschritte anzugehen und somit den Anschein politischer Normalität zu erwecken.
Das Problem ist nicht die Person Erdogan, es ist das präsidiale System. Das vorgeschlagene Verfassungssystem ist undemokratisch und autoritär. Durch die Aufhebung der Gewaltenteilung und der Vereinnahmung der Justiz spielt es letzten Endes gar nicht so eine Rolle, wer auf dem Präsidentensessel sitzt. Umso wichtiger wäre es, dass diese Verfassungsreform nicht in Kraft tritt.