Der ehemalige EU-Parlaments-Präsident Martin Schulz soll nach dem Verzicht von Parteichef Sigmar Gabriel die SPD als Spitzenkandidat in den Wahlkampf führen. Auch weil die SPD es nicht geschafft hat, von der Schwäche der CDU zu profitieren.
«Wenn ich jetzt anträte, würde ich scheitern und mit mir die SPD», sagte Sigmar Gabriel dem Magazin «Stern.» «Das, was ich bringen konnte, hat nicht gereicht.»
Mit diesen Worten begründete der 57-Jährige seinen Verzicht auf die Kanzlerkandidatur und seinen zeitgleichen Rücktritt als Parteivorsitzender der SPD. Als Nachfolger schlägt Gabriel den bisherigen EU-Parlaments-Präsidenten Martin Schulz vor.
Der 61-jährige Schulz dürfte spätestens am kommenden Sonntag als Spitzenkandidat der SPD für die Bundestagswahl auf den Schild gehoben werden, seine Wahl zum Parteivorsitzenden an einem vorgezogenen Parteitag in einigen Wochen dürfte nur noch Formsache sein. Gabriel dürfte als Nachfolger von Frank-Walter Steinmeier, der am 12. Februar zum Bundespräsidenten gewählt wird, Aussenminister werden und bereits am kommenden Freitag vereidigt werden. Gabriels Posten als Wirtschaftsminister übernimmt höchstwahrscheinlich seine Staatssekretärin Brigitte Zypries.
Gabriels Entscheid überraschte Parteigenossen und politische Gegner gleichermassen. Seit 2009 war er SPD-Chef. Er übernahm damals die Partei nach deren historisch schlechtestem Ergebnis bei einer Bundestagswahl.
Gabriels Kandidatur für die Bundestagswahl 2017 hielten politische Beobachter für ausgemacht. Vor vier Jahren hatte er den ehemaligen Finanzminister Peer Steinbrück in das aussichtslose Kräftemessen gegen die damals überaus beliebte Angela Merkel geschickt. Jetzt waren sich die Kommentatoren einig: Wenn nicht jetzt, wann denn sonst? Die Antwort lautet: Nie.
Gabriel hat sich aus politischen, aber auch privaten Gründen anders entschieden. Seine Beliebtheitswerte sind sowohl parteiintern als auch in der Bevölkerung bescheiden. Zwar hat er es geschafft, der Grossen Koalition mit abschlagsfreier Rente, Mindestlohn und Mietpreisbremse eine sozialdemokratische Handschrift zu verpassen, doch scheiterte er nicht zuletzt am Spagat zwischen Parteivorsitz und seiner Rolle im Wirtschaftsministerium.
Parteilinken war «Sigi», wie ihn die Genossen rufen, zu wenig links, andere monierten seinen Schlingerkurs in gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Fragen. Vor knapp einem Jahr wurde Gabriel auf dem SPD-Parteitag mit einem miserablen Wert von gerade mal 74 Prozent im Amt bestätigt, was den nach aussen hin kratzbürstig wirkenden, von Weggefährten aber als äusserst sensibel beschrieben Parteichef tief kränkte.
Der ehemalige EU-Parlaments-Präsident Martin Schulz kommt in sämtlichen Umfragen auf weitaus höhere Beliebtheitswerte als der Parteichef. Laut Berichten von «Stern» und «Zeit» soll eine von Gabriel selbst in Auftrag gegebene Umfrage unter SPD-Anhängern letztlich den Ausschlag für seinen Verzicht gegeben haben. In dieser Umfrage sprach sich ein Grossteil der Genossen für Schulz als Spitzenkandidaten aus.
«Um einen Wahlkampf wirklich erfolgreich zu führen, gibt es zwei Grundvoraussetzungen: Die Partei muss an den Kandidaten glauben und sich hinter ihm versammeln. Und der Kandidat selbst muss es mit jeder Faser seines Herzens wollen. Beides trifft auf mich nicht in ausreichendem Masse zu», sagte Gabriel.
Eine Rolle gespielt haben dürfte auch, dass Gabriel im März erneut Vater wird. Parteiintern angreifbar machte sich Gabriel nicht zuletzt auch deshalb, weil die SPD unter seiner Führung den freien Fall in den Umfragen nicht bremsen konnte. In jüngsten Umfragen kommt sie bundesweit gerade noch auf 20 Prozent, die Union (CDU/CSU) ist mit 37 Prozent fast doppelt so stark.
Die Sozialdemokraten haben es somit nicht geschafft, von der Schwäche der CDU zu profitieren und sich wieder als Partei des «kleinen Mannes» zu positionieren. Als Folge von Kanzler Gerhard Schröders Agenda-Politik (Arbeitsmarktreform), für die auch Gabriel steht, hatte die SPD schon zwischen 1998 und 2005 10 Millionen Wähler verloren.
Im Kampf um die sozial Benachteiligten mischen inzwischen die in die Mitte gerückte Union, die Linkspartei und auch die mit einem national-sozialen Programm auftretende Alternative für Deutschland (AfD) kräftig mit. Eine reale Machtoption sahen viele Genossen unter Gabriel deshalb nicht, zumal auch Merkels Beliebtheitswerte in jüngster Zeit wieder zugenommen haben.
Ob nun die SPD unter dem Pragmatiker Martin Schulz eine Machtoption hat, bleibt abzuwarten. «Die SPD kann mit Schulz ein besseres Ergebnis erzielen, aber sie kann nicht gewinnen», sagte der Parteienforscher Gero Neugebauer der «Nordwestschweiz». Der Vorteil von Schulz sei, dass er für Deutschland «unverbraucht» sei und keiner Kabinettsdisziplin unterworfen werde.
Weil er innenpolitisch kaum Politik betrieben habe, könne man ihm auch keinen Schlingerkurs unterstellen. Dies sei gerade für SPD-Wähler kein unwichtiger Aspekt, so Neugebauer. Das Gros der SPD-Wählerschaft wähle die Partei für deren Inhalte, die Person sei eher zweitrangig. «Schulz hat den Reiz des Neuen, innenpolitisch hat er eine weisse Weste. Davon dürfte die Partei profitieren, wenn sie einen inhaltlich guten Wahlkampf hinkriegt.»