Startseite
International
Seit fast 200 Jahren wird im Ruhrgebiet Steinkohle weit unter Tage gefördert. Jetzt macht die letzte Zeche dicht. Ein Besuch 1200 Meter unter der Erde, wo ein Männerkosmos in Staub, Hitze und Lärm um das Ende einer Tradition trauert.
Die Dieselkatze ruckelt mit neun Stundenkilometern in den Berg hinein. Eine kleine Hängebahn mit hydraulischem Antrieb, mit engen Sitzen ohne Beinfreiheit. 25 Minuten dauert die Fahrt in 1200 Metern Tiefe. Es rattert in den immer gleichen Zeitabständen. Neben der Hängebahn, auf den schwarzen Förderbändern, lassen sich die in Weiss gekleideten Bergmänner mit Helm, Bergmannslampe, Schutzbrille und dem Behälter mit dem Sauerstoff für Notfälle zu ihrem Arbeitsort tief im dunklen Berg befördern. Sie rasen an der sich so gemächlich nach vorne kämpfenden Dieselkatze vorbei. Eine düstere, mystische und unbekannte Welt, staubig und dunkel, lärmig und heiss, unheimlich und faszinierend zugleich. Absolutes Handy- und Rauchverbot.
Die Kleidung mitsamt Unterwäsche ist vollständig aus Baumwolle, Plastik birgt die Gefahr eines Funkenfluges. Manchmal geht auf der Strecke irgendwohin ein längst stillgelegter Stollen ab ins Nirgendwo. Steinkohlebergwerk Prosper Haniel bei Bottrop im Ruhrgebiet. Die letzte noch betriebene Zeche Deutschlands. Ende Jahr ist Schicht im Schacht. Für immer. Bergmann Klaus Pütz, 49, gelernter Elektriker, schwärmt von der Welt unter Tage: «Wenn du acht Stunden im Büro sitzt, hast du ja auch kein Tageslicht. Ich fühle mich wohl hier bei meinen Kumpels.» Pütz redet wie alle Bergmänner hier. Unverblümt, direkt, ehrlich, herzlich. Man ist per Du unter Tage. Mit allen.
Nur noch etwa 1000 Bergleute arbeiten bei Bottrop unter Tage, das Förderziel von 1,8 Millionen Tonnen Steinkohle für dieses Jahr wurde schon vor Wochen erreicht. Nun geht es ab nächstem Jahr für einige wenige Kumpel weiter mit dem Rückbau der Zeche, die meisten aber verlieren ihren Job. Seit fast 200 Jahren wird im Ruhrgebiet Steinkohle gefördert, die Region wuchs in der Mitte des 19. Jahrhunderts von einer der ärmsten Gegenden Europas zu einem Ballungsraum mit fünf Millionen Menschen mit Metropolen wie Dortmund, Duisburg, Essen, Bochum, Gelsenkirchen oder Bottrop.
Die Steinkohle war der Motor der Industrialisierung, zeitweise deckten die insgesamt 150 Millionen jährlich geförderten Tonnen zwei Drittel des deutschen Energiebedarfs ab. In den 1950er-Jahren, der Hochphase des Steinkohlenabbaus nach dem Zweiten Weltkrieg, arbeiteten über eine halbe Million Bergleute weit unter Tage in mehr als 160 teilweise gigantischen Zechen. Nach dem Krieg fehlten neun Millionen junge Männer in Deutschland, es setzte eine Internationalisierung der Bergmannsszene ein. Menschen aus Polen, der Türkei, aus Italien und Griechenland schufteten Seite an Seite mit Deutschen unter Tage. Religion, Herkunft, das alles spielt unter den Kumpels bis heute keine Rolle.
Die Bergleute müssen sich bei ihrer gefährlichen Arbeit aufeinander verlassen können. Jeder hilft jedem, alle schauen füreinander. «Dieser hohe Grad an Toleranz prägt bis heute die Gesellschaft im Ruhrgebiet», sagt der Historiker Theodor Heinrich Grütter, Chef des Ruhr-Museums in Essen. Die Bedeutung der Kohleförderung war für Deutschland prägend, im Schlechten wie im Guten, so der Historiker weiter: «Mit der Steinkohle können sie Stahl kochen. Stahl war der Werkstoff für zwei Weltkriege, und Stahl ist die Grundlage der modernen industrialisierten Welt, wie wir sie heute haben.»
Mächtige Walzen mit bedrohlich wirkenden Krallen graben sich in das Flöz, Steinkohle bricht herunter auf ein Förderband. Eine Maschine wie ein Monster, die Bergmänner nennen sie «Cindy». Sie donnert, sie stäubt, sie ächzt. Mit russigem Gesicht steht Andreas Stieglein, 47, im dunklen Streb. Heute hat sich die Walze nochmals zehn Meter nach vorne gearbeitet. Tonnen von Steinkohle. Der Streb, der schmale und kaum zwei Meter hohe Abbauraum, wird nach jedem Meter, den sich die Maschine nach vorne schuftet, mit Stahlgittern an der Decke neu befestigt. Einen Kilometer und 200 Meter Gestein und Erde drücken über Andreas Stieglein und den Bergmännern. Ohne dieses mächtige Stahlgitter würde hier alles zusammenbrechen, Milliarden von Tonnen würden herunterdonnern und alles unter sich begraben. Stieglein ist hoch angesehen bei den Kumpels, mehr als 30 Jahre unter Tage in den verschiedensten Zechen im «Pott».
Schon der Opa war tief unten im Berg. Es zwickt der Rücken vom gebeugten Gehen, eine Staublunge wie einst Opa, die hat er wohl nicht, aber sonst geht’s halt schon auf die Knochen, die Arbeit mit der Kohle. «Irgendwelche Gebrechen haben hier alle, wenn man jahrelang auf den Knien im Streb herumrutscht», sagt Stieglein, der Bergmechaniker, und lächelt. Eigentlich wollte er bloss drei Jahre unter Tage schuften, um sich sein Studium zu finanzieren. Er blieb ein Bergmann, er wird im Herzen immer Bergmann bleiben. Auch wegen der Gemeinschaft, der Solidarität. «Wenn ich hier ein Problem kriege», sagt Stieglein und klopft dem neben ihm stehenden Grubenführer Dirk Tomke freundschaftlich auf die Schulter, «dann weiss ich zu 110 Prozent, dass der Dirk und die anderen alles tun werden, um mich hier rauszuholen».
Der Niedergang der Steinkohle setzte Ende der 1950er-Jahre ein. Die Ruhrkohle konnte preislich international nicht mehr konkurrieren, auch die tiefen Ölpreise machten der Kohle- und Stahlindustrie im «Pott» zu schaffen. Erdöl, Gas und Strom aus Kernkraftwerken verdrängten die Steinkohle. Doch der Strukturwandel im Ruhrgebiet ging nur schleppend voran, bis heute wird der Steinkohleabbau staatlich subventioniert. In den frühen 1960er-Jahren gab es im «Pott» nicht eine einzige Universität, das Gebiet war Heimat der Malocher. «Kohle- und Stahlarbeiter sind im Ruhrgebiet bis heute hoch angesehen. ‹Der Bergmann hat uns nach dem Weltkrieg aus der Scheisse geholt›, sagten die Menschen voller Anerkennung», erklärt Historiker Grütter in typisch direkter «Pott»-Sprache.
Trotz der gefährlichen Tätigkeit war die Arbeit unter Tage in der verarmten Region sehr beliebt. «Der Bergmann war recht gut bezahlt, hatte Sicherheit, konnte eine Familie ernähren», erzählt der Historiker. «Er bezahlte seinen Einsatz allerdings mit seiner Gesundheit.» Vor allem früher litten die Bergmänner unter Staublungen und Wurmbefall, sie wurden kaum 60 Jahre alt. Bis heute kann sich ein Kumpel wegen der körperlichen Belastung unter Tage mit 50 frühpensionieren lassen. Trotz der Risiken sind im «Pott» in mehr als 150 Jahren nur etwa 5000 Bergmänner tödlich verunglückt. Das sei im internationalen Vergleich wenig, so der Historiker. Die Steinkohle präge bis heute die Kultur im Ruhrgebiet. «Während die Menschen in Süddeutschland von Studium und Eigenheim träumten, suchten die Menschen hier ihre Sicherheit in grossen Industriebetrieben, in einer Form von Kollektivismus.» Der Zusammenhalt kann bei der Arbeit unter Tage Leben retten. «Diese starke Solidarität ist bis heute die DNA des Ruhrgebiets», sagt Grütter.
Allerdings hat der Strukturwandel nun längst und in voller Wucht eingesetzt, die Menschen arbeiten heute überwiegend im Dienstleistungsbereich, es gibt Fachhochschulen und Universitäten mit 350 000 Studenten, die Bergmänner sind in der Unterzahl. «Aber die durch das Industrieproletariat geprägte Kultur wird sich so rasch nicht ändern», ist Grütter überzeugt.
18 Uhr, Schichtwechsel in der Grube. 40 Bergmänner mit russigem Gesicht und müdem Ausdruck stehen im Förderkorb, eine Art grosser Käfig. Er braucht eineinhalb Minuten, um wieder oben anzukommen. Über Tage wartet die nächste Schicht auf ihren Einsatz. «Glück auf!», der Bergmannsgruss, rufen sich die Männer zu.
Verbunden ist damit der Wunsch, die Männer mögen neue Kohle finden und heil wieder nach oben kommen. Die Bergmänner von der Nachmittagsschicht gehen duschen, die Kohle vom Körper schrubben, wie jeden Tag. In der Kantine gibt es später währschafte Suppe, an der Wand hängt ein grosses Poster von Schalke 04, dem Revierfussballklub. Breel Embolo, der Schweizer Nati-Stürmer, war auch mal unten in der Zeche, er ist auf einem Foto mit grinsenden Bergmännern zu sehen.
Revierschlosser André Bulka, 46, wirkt nachdenklich. Der 21. Dezember rückt näher. Es wird für ihn und die anderen Bergmänner ein Tag der Trauer werden. An diesem Tag macht die letzte Zeche Deutschlands dicht. Ein grosser Akt in Prosper Haniel. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird vorbeischauen, die Kumpel schenken dem Staatsoberhaupt das letzte aus der Grube geholte Stück Kohle. «Der Bäcker geht gerne backen», sagt Bulka, der seit 1988 unter Tage schuftet. Er zuckt mit den Schultern und meint trocken: «Ich hole gerne die Kohle aus dem Berg.» So sei das eben. Das Leben unter Tage werde ihm fehlen, «es ist, als würde ich die Familie verlassen». Was bleiben wird nach all den Jahren in der Zeche? André Bulka überlegt und sagt dann mit einem Lachen: «Die Kohle unter meiner Haut.»
Arbeiten in der Zeche: In diesem interaktiven Beitrag des WDR können Sie selber in den Berg eintauchen.
Während im Ruhrgebiet am 21. Dezember die letzte Zeche Deutschlands dichtmacht, geht die Energiegewinnung mit der Steinkohle weiter. Deutschland importiert weitaus günstigere Steinkohle aus Südafrika oder Kolumbien. Die Bundesrepublik ist der grösste Steinkohleimporteur Europas. Weitere grosse Steinkohleabbaugebiete in Europa gibt es in Russland, Polen und der Ukraine, die Volksrepublik China fördert weltweit mit Abstand am meisten Steinkohle. Dennoch steigt in Deutschland der Anteil erneuerbarer Energien jährlich an. Von Januar bis September 2018 wurden insgesamt 170 Milliarden Kilowattstunden Strom aus Sonne, Wind und anderen regenerativen Quellen erzeugt, fast so viel wie aus Braun- und Steinkohle (172 Milliarden Kilowattstunden). Die Energiegewinnung aus Kohle soll künftig weiter sinken. Deutschland will in den nächsten Jahren auch aus dem CO2-belastenden Braunkohleabbau sukzessive aussteigen. Bis heute hängen 20000 Arbeitsplätze an der Braunkohleindustrie in der Lausitz, in Sachsen und Nordrhein-Westfalen. Im Ruhrgebiet werden die stillgelegten Zechen von gefährlichen Rückständen wie Sondermüll befreit. Einige seit Jahren nicht mehr betriebene Bergwerke sind heute Museen oder Veranstaltungsorte. (crb)