In der Nordwestukraine wird trotz sinkender Nachfrage auf dem Weltmarkt Bernstein abgebaut. Eifrig, illegal und ökologisch mit fatalen Folgen. Die Sicherheitsbehörden schauen zu.
Auf den Strommasten über Dubrowyzja thronen Storchennester, Apfelbäume blühen, die Häuser sind klein, manche aus Holz, aber gründlich geweisst. Eine arm-reiche Idylle, auf der Hauptstrasse überholt ein Infiniti-Geländewagen ein Pferdegespann. Und am Stadtrand stehen neue, adriatisch wirkende Villen. «Die haben unsere Burschtin-Millionäre gebaut», sagt Oleksandr.
Bernstein heisst auf Ukrainisch Burschtin, verballhornt Brennstein. Früher zündeten die Leute in Dubrowyzja mit dem Urzeitharz Herdflammen an, jetzt befeuert es eine ganze Untergrund-Branche. Die 9500-Seelen-Stadt Dubrowyzja gilt als Hochburg des illegalen Anbaugebiets in der Nordwestukraine, die Kiewer Presse hat es «Bernsteinrepublik» getauft. Weil die Bernsteinwäscher bewaffnet gegen die Staatsmacht rebelliert hätten wie die prorussischen Separatistenrepubliken Donezk und Luhansk. Aber wirklich erzählt der Bernstein hier eher, wie Behörden mit ökologischem Raubbau Profit machen.
Der Sand ist feucht, die Abdrücke der Gummistiefel sind noch frisch, am Rand eines Trichters liegt eine leere Wodkaflasche, Marke Medoff. «Hier waren die Pumpen noch vor ein paar Tagen», erklärt Oleksandr Sadoroschni. Kahle Sandflächen zerfressen die Wälder um Dubrowyzja, «Strand», nennt Oleksandr sie ironisch. Der «Strand» ist übersät mit metertiefen Kratern, als hätte jemand den Forst bombardiert. Eine sterbende Birke lehnt sich schräg an eine andere. Erdwälle säumen einen grün schimmernden Wassergraben, den ein Schaufelbagger ausgehoben hat. Denn die Pumpen brauchen Wasser.
Oleksandr schätzt, im Kreis Dubrowyzja arbeiteten etwa 100 Pumpen, mit fünf bis zehn Mann Bedienung. Die handgebauten Pumpen, von alten Mercedes-Dreilitermotoren getrieben, sind das Herz der Branche. «Du drückst ein Stahlrohr in den Boden, schliesst einen Feuerwehrschlauch an, die Motorpumpe presst den Wasserstrahl durch das Rohr in die Erde, höhlt sie aus, vier bis fünf Meter tief.» Und schwemme den Bernstein, der leichter als Wasser ist, nach oben. Die Männer fischten ihn in kleinen Netzen heraus.
Er habe 2012 und 2013 selbst an der Pumpe malocht, sagt Oleksandr. «Knochenarbeit. Du stehst bis zu 14 Stunden an der Pumpe, in Hitze, Regen und Frost, viele Männer haben ihre Gesundheit ruiniert.» Sadoroschni sitzt für die nationalistische «Swoboda»-Partei im Kreisrat, dort wurde er zum Vizesprecher gewählt, der 32-Jährige wird respektiert in Dubrowyzja. Ökologen des Naturschutzgebietes Riwne klagen, schon der Lärm der Motoren verscheuche Raubvögel und Hochwild, die Pumpen saugten das Grundwasser in die Höhe, schnell wachsende Pflanzen begännen, den gelichteten Mischwald zu verdrängen. Allein im Naturschutzgebiet sei der Lebensraum von über 1300 Arten bedroht.
Es ist der Fluch oder Segen des Bernsteins, dass er einfach zu haben ist. An der Ostsee wird er seit Jahrhunderten als Strandgut gesammelt. Und die ukrainischen Eigenbaupumpen heben illegal 120 bis 300 Tonnen, legal fördert die Ukraine 10 Tonnen im Jahr. Von 2011 bis 2014 stieg nach einer Statistik des litauischen Branchenkonsortiums Le’Amber der Kilopreis für ukrainischen Rohbernstein von 900 auf 2000 Dollar.
Damals herrschte Bernstein-Boom in China, wo es unter Neureichen schick wurde, Badezimmer mit Bernstein zu fliesen. Und 2014 verlor der erzkorrupte Staatschef Viktor Janukowitsch mit der Macht auch die Kontrolle über die ukrainischen Schwarzmärkte. Die Branche verteilte sich neu, Oleksandr sagt, in Dubrowyzja stiegen die Preise für ein Kilo 20 bis 50 Gramm schwerer Bernstein-Kiesel auf sagenhafte 7000 Dollar. Dreieinhalb Jahreslöhne eines Busfahrers. Die Preise sind wieder abgestürzt, auf unter 1000 Dollar. «Die Lage hat sich beruhigt», sagt Anton Kruk von der Gebietspolizei Riwne. Die Zahl der Anzeigen sei gefallen, 2018 habe man in der Region 119 Motorpumpen und knapp 1,059 Tonnen Bernstein beschlagnahmt, 77 illegale Bernsteinwäscher verhaftet. Aber trotz sinkender Nachfrage lieferte der ukrainische Untergrund laut Le’Amber 2018 noch immer 70 Prozent der Fördermenge von 2014.
Die Trichter beginnen schon in den Feldern, wenige Kilometer vom Stadtrand entfernt. Auf noch grünen Wiesen sind frische Erdwälle aufgehäuft. Hier bereite eine Pumpenmannschaft ihren künftigen Claim vor, sagt Oleksandr. Und er amüsiert sich: «Sie hätten in Riwne nicht mit der Polizei reden sollen. Jetzt kriegen wir keine einzige arbeitende Pumpe zu sehen.» Die lokalen Ordnungshüter hätten bestimmt alle Brigaden gewarnt.
Es gibt Videos von Massenprügeleien und sogar Schiessereien in den Wäldern. Auch westliche Medien berichten von einer verrohten, mit Kalaschnikows bewaffneten Bevölkerung im «Wilden Nordwesten der Ukraine». «Unsinn», sagt Oleksandr. In Nachbarkreisen gab es mehrere Morde, hier einige Raubüberfälle. Aber die Leute seien auf die Strasse gegangen, um die Legalisierung der Bernsteinwäscherei zu verlangen, sagt Oleksandr. «Sie würden lieber Steuern zahlen als Schutzgeld.» Aber daran seien weder Parlamentarier noch Präsident interessiert, weil sie alle an den Schmiergeldströmen mitverdienten. «Kein Feld arbeitet ohne ‹Schutzdach› der Polizei, ohne Deckung des ukrainischen Geheimdienstes oder der örtlichen Behörden», beschrieb Expräsident Petro Poroschenko das Bernsteingeschäftsmodell und kündigte an, für Ordnung zu sorgen. Das war 2015.
Wieder in Dubrowyzja bekommt Oleksandr einen Anruf: Andri, ein Unternehmer, der mehrere Pumpen betreibt. Wir treffen uns in einem Café am Marktplatz. «Eine Pumpe braucht Diesel für 100 Dollar am Tag, plus 200 Dollar Lohn für die Brigade, plus 250 Dollar Schutzgeld.» An ertragreichen Plätzen aber koste ein Tag noch immer bis zu 1500 Dollar. «Wenn jemandem die Pumpe beschlagnahmt oder er selbst festgenommen wird, dann nicht, weil er Bernstein gewaschen hat. Sondern, weil er kein Schutzgeld zahlen wollte.»
Bernstein, auch Feuer- oder Brennstein genannt, ist vor Millionen von Jahren gehärteter Nadelholzharz, brennbar und elektrostatisch aufladbar, die antiken Griechen nutzten ihn, um Staub aus Kleidern zu bürsten. Er wurde im Altertum als «Träne der Götter» verehrt, als begehrtes Handelsgut gelangte er noch in der Jungsteinzeit von der Ostsee bis nach Nordafrika. Auch nachdem seine mythische Herkunft widerlegt war, blieb Bernstein mit seinen schönen, oft durchsichtigen Farben hoch im Kurs, wird noch heute von vielen für einen Edelstein gehalten. Wissenschaftlich ist er wichtig, weil seine schnell härtenden Tropfen vorzeitliche Insekten fingen und konservierten. Ausser dem baltischen Bernstein sind Vorkommen in der Ukraine, in vielen europäischen Gebirgen, dem Nahen Osten, Sibirien, Amerika oder Südostasien bekannt, insgesamt über eine Million Tonnen.
70 bis 90 Prozent der globalen Bernsteinreserven befinden sich in der Region Kaliningrad, die legal etwa 450 Tonnen jährlich abbaut, Polen fördert offiziell 20 Tonnen, die Ukraine 10 Tonnen, Litauen, Lettland und die Dominikanische Republik bis zu einer Tonne im Jahr. 2015 erreichte der Bernstein-Weltmarkt ein Volumen von etwa zwei Milliarden Dollar, davon ein gutes Viertel für Rohbernstein. 30 Prozent des Bernsteins werden zu Schmuck verarbeitet, wobei die Chinesen (20 Prozent) den Markt für aus Kieseln gepressten Bernstein beherrschen, Polen und Litauen (10 Prozent) für massiven Rohbernstein. 27 Prozent werden für Lack, Farben oder Parfüm eingeschmolzen, 14 Prozent wandern in Pharmazie, Maschinenbau und Holzverarbeitung, aus 10 Prozent kocht man Bernsteinsäure für Lebensmittelzusätze, die vor allem in China sehr populär sind. Bis zu 10 Prozent werden zu Öl für die kosmetische Industrie verarbeitet. Allerdings fällt die Nachfrage nach Bernstein als esoterischem Luxusallrounder seit Jahren, das Angebot auf dem Weltmarkt überstieg sie 2018 um 60 Prozent. (scs)