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Wie Erdogans Partei in der Türkei ihre Macht schamlos ausnutzt

Vetternwirtschaft und Protzen mit Luxus: Nach 17 Jahren an der Macht hat die AKP in der Türkei eine neue konservative Elite gebildet. Deren Verhalten stösst ehemaligen Unterstützern des Präsidenten sauer auf.

Susanne Güsten aus Istanbul
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Omnipräsenter Erdogan: Die AKP hat um ihren Präsidenten einen regelrechten Personenkult aufgebaut. Bild: Bild: Emrah Gurel/AP (Akcakale, 18. Oktober 2019)

Omnipräsenter Erdogan: Die AKP hat um ihren Präsidenten einen regelrechten Personenkult aufgebaut. Bild: Bild: Emrah Gurel/AP (Akcakale, 18. Oktober 2019)

CH Media

Stossstange an Stossstange stehen die Autos im abendlichen Berufsverkehr auf der Istanbuler Autobahn. Da rast von hinten ein Wagen mit blau-roten Springlichtern auf der Standspur heran und zieht vorbei. Dass die Buchstaben «AK» auf dem Nummernschild stehen, wundert niemanden im Stau: Das Auto gehört einem Funktionär der AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Und die dürfen in der Türkei fast alles.

Fast täglich zeigt Erdogans Elite, wie sehr sie sich nach 17 Jahren in der Regierung von der Welt der Normalbürger entfernt hat. Unverblümt stellt die islamisch-konservative Führungsschicht ihren Wohlstand zur Schau, während Millionen Türken wegen der Wirtschaftskrise nicht wissen, wie sie mit einem Mindestlohn von rund 440 Franken im Monat über die Runden kommen sollen. Mitglieder der AKP-Seilschaften geben sich immer weniger Mühe, Korruption und Vetternwirtschaft zu verschleiern.

Brillantring für Neugeborenes

Das neueste Beispiel lieferte Ahmet Emin Söylemez, ein Geschäftsmann und ehemaliger AKP-Staatssekretär im Gesundheitsministerium, mit seiner Frau Büsra Nur Calar Söylemez. Die Geburt ihres Kindes feierten die beiden mit 150 Gästen in einem Prunksaal, wo das Neugeborene einen Brillantring an den Finger gesteckt bekam. Fotos und Videos von der Feier wurden in den sozialen Medien verbreitet – während die Türkei über eine Selbstmordserie von Arbeitslosen redete, die aus Verzweiflung Zyankali schluckten.

Selbst in konservativen Kreisen trifft die Prunkshow auf Kritik. Früher hätten die Islamisten die westliche Elite wegen ihrer Protzerei kritisiert, schrieb der Kommentator Ömer Turan auf Twitter. «Jetzt, wo wir die Gelegenheit dazu haben, machen wir alles genauso – nur schlimmer.»

Söylemez und seine islamisch verhüllte Frau gehören zu einer neuen Gesellschaftsschicht, die unter der Erdogan-Regierung entstanden ist. Konservative Aufsteiger wie sie haben die traditionell säkular geprägten Eliten aus den Führungspositionen in Wirtschaft, Verwaltung und Politik verdrängt. Häufig ist das AKP-Parteibuch eine Voraussetzung, um beruflich weiterzukommen.

Der angesehene Meinungsforscher Bekir Agridir sieht in dieser Vetternwirtschaft die schlimmste Fehlleistung der AKP. In früheren Zeiten sei es für einen armen Jungen vom Land möglich gewesen, mit Talent und Fleiss an die besten Universitäten des Landes und in hohe Ämter zu kommen, sagte Agridir der Nachrichtenplattform T24. «Heute muss man das Einverständnis der AKP haben, wenn man beispielsweise Bankdirektor werden will.»

Im zentralanatolischen Konya verschaffte ein Universitätsrektor und früherer AKP-Parlamentarier nach Medienbe­richten einem befreundeten Geschäftsmann eine hochrangige Beamtenposition in seiner Hochschule – während der Sohn des Rektors als Vorstandsmitglied ins Unternehmen des frisch gebackenen Beamten eintrat. Vier von fünf Führungsmitgliedern der halbstaatlichen Fluggesellschaft Turkish Airlines haben dieselbe Schule wie Erdogans Sohn Bilal besucht, meldete die Zeitung «Sözcü».

Angetreten als Antikorruptionspartei

«Ak» bedeutet «Weiss» auf Türkisch. Als Partei der weissen Weste trat die AKP im Jahr 2001 an, um die korrupte und unfähige Politikerriege in Ankara zu verdrängen. Wirtschaftliche und politische Reformen, Transparenz, Meinungsfreiheit und Dienst am Bürger hatte sich Erdogans Partei auf die Fahnen geschrieben. Damit feierte sie im ersten Jahrzehnt ihrer Regierungszeit grosse Erfolge. Inzwischen habe die Partei ihre Grundwerte aber zugunsten eines Personenkults um Erdogan aufgegeben, finden Aussteiger wie Mustafa Yeneroglu, der kürzlich sein AKP-Parteibuch zurückgab. Im Parteivorstand werde Kritik als «Respektlosigkeit» gegenüber Erdogan abgebügelt. Habibe Ciftcioglu, die frühere AKP-Vizechefin in Istanbul, gab ebenfalls ihren Parteiaustritt bekannt. Sie erkenne ihre Partei nicht wieder. An die Stelle politischer Werte sei die «Raffgier» getreten.

Diese Entfremdung ist ein wichtiger Grund für die Niederlage der AKP bei den Kommunalwahlen im Frühjahr. 80 Prozent der AKP-Wähler kämen aus den Reihen der Mittelschicht, denen die Wirtschaftskrise zu schaffen mache, schrieb Kommentator Turan. Erdogans Regierung erweckt nicht den Eindruck, als wolle sie zu den Werten ihrer Aufbruchszeit zurückkehren. Offenbar arbeitet Ankara an einem Gesetz, das negative Kommentare über die Wirtschaft zur Straftat machen soll.