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Kriminalbeamte waren bei Ermittlungen auf mögliche Anschlagspläne gegen Nuklearanlagen in Belgien gestossen. Wie real ist die Gefahr eines Nuklearangriffs durch Terroristen? Könnte der IS gar eine schmutzige Bombe bauen?
Es sind zuweilen die Ereignisse nach dem Ereignis, die die grössere Sprengkraft besitzen. So auch in Belgien.
Zwei Tage nach den Anschlägen von Brüssel wurde Didier Prospero, Wachmann einer Sicherheitsfirma, tot in seiner Wohnung aufgefunden – durchsiebt von mehreren Schüssen.
Die Kinder hatten den leblosen Körper nach der Rückkehr von der Schule entdeckt. Prospero bewachte im belgischen Fleurus (nahe Charleroi) das Institut für Radioelemente.
Erste Berichte, wonach der Badge des Sicherheitsmanns gestohlen wurde, wurden dementiert. Die Staatsanwaltschaft von Charleroi ermittelt, verfolgt aber keine terroristische Spur.
Es ist schon eine merkwürdige Koinzidenz. Kurz nach den Terroranschlägen wurden die belgischen Atomkraftwerke Tihange und Doel evakuiert. Das geschieht eigentlich nur im Notfall.
Der Hintergrund: Die französischen und belgischen Kriminalbeamten waren bei ihren Ermittlungen zu den Attentätern vom 13. November in Paris auf mögliche Anschlagspläne gegen Nuklearanlagen in Belgien gestossen.
Bei einer Hausdurchsuchung in Brüssel am 30. November hatten Ermittler ein zehnstündiges Video gefunden, das den Tagesablauf eines Wissenschafters des Centre d’Études Nucléaires (CEN) dokumentierte.
Die Bakraoui-Brüder, die als Flughafen-Attentäter von Brüssel identifiziert wurden, hatten eine Überwachungskamera am Wohnsitz des Physikers versteckt und dessen Gewohnheiten ausspioniert.
Wurde die Kamera installiert, um eine Entführung vorzubereiten? Oder gar einen Angriff auf das Forschungszentrum?
In den belgischen Medien schossen die wildesten Spekulationen ins Kraut. Der Anti-Terror-Beauftragte der EU, Gilles de Kerchove, hatte zuvor vor einem Angriff auf belgische Atomanlagen gewarnt.
«Ich wäre nicht überrascht, wenn in den nächsten fünf Jahren das Internet genutzt würde, um einen Angriff zu verüben», sagte er der belgischen Zeitung «La Libre Belgique».
Der IS hätte genügend Material
Es wäre ein Horrorszenario: Terroristen attackieren ein Atomkraftwerk oder zünden eine «schmutzige Bombe». Wie real ist die Gefahr eines Nuklearangriffs durch Terroristen?
Könnte der IS gar eine schmutzige Bombe bauen? Die Wissenschafterin Togzhan Kassenova, die beim Nuclear Policy Program des Carnegie Endowment forscht und von 2011 bis 2015 bei den Vereinten Nationen mit Abrüstungsfragen befasst war, sagt im Gespräch mit der «Nordwestschweiz»:
«Die Gefahr, dass Atomanlagen ins Visier genommen werden, ist ernst.» Dass der IS in den Besitz einer radiologischen Waffe gelangt, hält Kassenova für eine reale Bedrohung.
Anders als beim Bau einer Atombombe bräuchten Terroristen kein hochangereichertes, waffenfähiges Plutonium, sondern lediglich Zugang zu radioaktivem Material wie etwa Cäsium-137 – ein Produkt der Kernspaltung, das bei der Strahlenbehandlung von Krebspatienten eingesetzt wird und in einer Vielzahl von Spitälern und Forschungseinrichtungen zu finden ist. Einem australischen Geheimdienstbericht zufolge haben die IS-Milizen genug strahlendes Material in Spitälern gefunden, um eine radiologische Bombe zu bauen.
Im August 2014 ereignete sich im belgischen Kernreaktor Doel-4 ein Sabotageakt: Ein Betriebsangehöriger hatte ein Ventil geöffnet und rund 65 000 Liter Öl auslaufen lassen, sodass sich die Turbine überhitzte und automatisch stehen blieb. Radioaktives Material trat nicht aus. Aufgeklärt wurde der Vorfall nicht.
Später wurde bekannt, dass der in Syrien getötete radikale Islamist Ilyass Boughala drei Jahre lang als Techniker im Hochsicherheitsbereich des Atomkraftwerks Doel gearbeitet hatte.
Hat er seine Expertise weitergegeben? Der Vorfall stimmt nachdenklich. «Das zeigt eine Verbindung zwischen Terrorakten und dem Interesse an nuklearem oder radioaktiven Material», sagt die Atomexpertin Kassenova.
Der digitale Super-GAU
Ein möglicher Angriff müsste nicht einmal physisch geschehen, sondern könnte auch virtuell durch eine Cyber-Attacke erfolgen.
Cyber-Kriminelle könnten sich in die Sicherheitsarchitektur eines Atomkraftwerks hacken und per Mausklick die Reaktoren bedienen. Es wäre der digitale Super-GAU. 2003 wurden die Computer im abgeschalteten Kernkraftwerk Davis-Besse im US-Bundesstaat Ohio von einem Computerwurm namens «Slammer» befallen.
Der Virus hatte die Firewall des Druckwasserreaktors umgangen und war in das Steuersystem eingedrungen.
Die Folge: Die Sicherheits- und Prozess-Systeme waren für mehrere Stunden nicht erreichbar.
2010 schleusten die USA und Israel den Computerwurm Stuxxnet in das Computersystem der iranischen Urananreicherungsanlage Natans und legten 1000 Uran-Zentrifugen lahm. Der Fall sorgte international für Aufsehen.
Der Think-Tank Chatham House warnt in einem jüngsten Bericht vor den Risiken einer Cyberattacke auf Nuklearanlagen. Die Betreiber seien auf diese Gefahren nur unzureichend vorbereitet.
«Während die Betreiber von Atomanlagen sehr rigoros in der Verschärfung von Vorschriften sind, die die physische Sicherheit betreffen, trifft dies weniger auf die Regeln von Cybersicherheit zu», heisst es in der Studie.
Und weiter: «Es gibt zunehmende Indizien, dass die Gefahrenanalyse oder Risikokalkulation der Industrie unangemessen ist und die Industrie nicht genug in Cybersicherheit investiert.»
Mit einem einfachen VPN-Client könnten sich Hacker wie im Fall des Kernkraftwerks Davis-Besse Zugang zu den Sicherheitssystemen verschaffen und den Reaktor herunterfahren. Der Bericht weist explizit auf die Gefahren von Insidern hin, die mit einer Malware auf einem USB-Stick das System kompromittieren können.
Die Gefahr kommt auf leisen Sohlen .