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Wohnungsnot, Verkehrskollaps, Konkurrenzängste: Die Debatte um die rasante Wirtschaftsentwicklung und die Identität beherrscht den Wahlkampf in Luxemburg.
Am kommenden Sonntag wählt Luxemburg. Also eigentlich nur die Hälfte. Denn mit einem Ausländeranteil von 48 Prozent hat im 600 000-Einwohner-Land nur etwas mehr als jeder Zweite das Recht, die Geschicke der Politik mitzubestimmen. Ob das gut so ist und wie sich das Verhältnis von Einheimischen und Zugewanderten in Zukunft entwickeln soll – es sind Fragen, die im Zentrum der Debatte des aktuellen Wahlkampfes stehen. Es geht um Identität und darum, wie viel Wachstum das reichste aller EU-Länder verträgt.
Luxemburg ist ein Magnet. Die Wirtschaft boomt, verlangt nach Arbeitskräften. In den vergangenen zehn Jahren ist die Wohnbevölkerung vor allem durch Zuwanderung um 20 Prozent gewachsen. Dazu kommen die knapp 200 000 Grenzgänger, die jeden Tag von den Nachbarstaaten Deutschland, Belgien und Frankreich ins Grossherzogtum pendeln. Die Folge: Die Infrastruktur des Landes kommt an ihre Grenzen, auf den Autobahnen bilden sich kilometerlange Staus. Nicht nur in Luxemburg-Stadt sind die Wohnungspreise für viele ins Unermessliche gestiegen.
Das Wort «Dichtestress» sucht man zwar vergeblich. Aber einige Slogans der Parteien lassen durchaus an die Debatte in der Schweiz im Rahmen der wachstumskritischen Ecopop-Initiative von 2014 erinnern. «Wenn Luxemburg in diesem Tempo weiterwächst, dann leben im Jahr 2050 über 1,2 Millionen Menschen in diesem Land», warnt Fred Keup Ende August auf einer Pressekonferenz der Alternativ Demokratischen Reformpartei (ADR). Erst vor kurzem hat sich der 38-jährige Geografielehrer den Rechtspopulisten angeschlossen. Als Politneuling führte er im Jahr 2015 die von ihm gegründete Bewegung gegen die Einführung des Ausländerwahlrechts an. Nach 78 Prozent Nein-Stimmen in der Volksabstimmung zeigte sich, dass Keup einen Nerv getroffen hatte.
In Interviews betont Fred Keup, dass es ihm nicht gegen Zuwanderer oder die Grenzgänger gehe. Vielmehr sei ihm die Bewahrung des Lëtzebuergesch, dem moselfränkischen Ortsdialekt wichtig. Keup fürchtet, dass dieser durch die vielen französisch- und deutschsprachigen Zuwanderer verdrängt werden könnte. Schon jetzt höre man im Alltag oft nur noch die Sprachen der Nachbarsländer. Eine letzte Bastion, wo das Luxemburgische hohen Stellenwert geniesst, ist das Beamtentum. Luxemburgisch zu sprechen, ist sogar Voraussetzung dafür, dass man sich beim Staatsdienst bewerben kann. Dies, obwohl die Amtssprache Deutsch oder Französisch ist.
Wohnungsnot, Verkehrskollaps, Konkurrenzängste – mit der Fokussierung auf die Sprache und Identitätsfrage lassen sich die Herausforderungen für Luxemburg durch das rasante Wirtschaftswachstum effizient emotionalisieren. Das haben neben der ADR auch die anderen Parteien entdeckt. «Zukunft auf Lëtzebuergesch» lautet der Slogan der Liberalen um Premierminister Xavier Bettel. Und die Grünen werben mit «Well mir eist Land gär hunn» («Weil wir unser Land gerne haben»). Dabei spielt es auch keine Rolle, dass heute wohl so viel Luxemburgisch gesprochen wird wie nie zuvor. Sprachhistoriker Benoit Majerus von der Uni Luxemburg: «Die Kommunikation im Internet und per Handy findet vor allem bei jüngeren Leuten praktisch nur noch auf Luxemburgisch statt.»
Eine Antwort auf die wirklichen Wachstumsschmerzen bleiben die Parteien unterdessen schuldig. Für den Ausbau der Infrastruktur oder für die Erstellung von bezahlbarem Wohnraum zum Beispiel müssten die Steuern erhöht werden. Eine Massnahme, die im Tiefsteuerland Luxemburg bei Politikern sämtlicher Couleur auf Ablehnung stösst. Ohnehin unterscheiden sich die wichtigen Parteien mehr durch Akzente als in der Substanz. Ob die Regierungskoalition von Premier Bettel aus Liberalen, Grünen und Sozialdemokraten halten wird, hängt deshalb in erster Linie vom Atmosphärischen ab. Beobachter gehen davon aus, dass Luxemburg nach dem Sonntag zu jener Konstellation zurückfindet, die lange Jahre als die natürliche Ordnung galt: Eine Regierung unter der Führung der Christlich Sozialen Volkspartei (CSV), der auch der heutige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker angehört. Mit wem die CSV zusammengehen könnte, ist offen. In Luxemburg können fast alle miteinander.
Erstaunlicherweise spielten das Thema Europa und die Migrationspolitik im Abstimmungskampf kaum eine Rolle. Luxemburg ist eines der wenigen europäischen Länder, die die Flüchtlingsverteilung der EU ohne Murren akzeptiert hat und wo sie auch von der Bevölkerung breit mitgetragen wird. Aussenminister Jean Asselborn gilt sogar als Miterfinder der Quote. Dass selbst die rechtspopulistische ADR keinen euro-skeptischen Kurs fährt, liegt daran, dass im nur 2500 Quadratkilometer grossen Land die Europäische Union «Teil der Staatsraison» ist, wie es Juncker kürzlich in einem Interview mit dem «Luxemburger Wort» ausgedrückt hat. Bleibt zu bemerken: Er tat dies auf Deutsch und nicht etwa auf Lëtzebuergesch.