Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will Europa bewahren, stärken und schützen.
Wochenlang arbeitete man in der EU-Kommission daraufhin und auch die Journalisten wurden stets auf die Wichtigkeit dieses «Events» hingewiesen. Und so war es nur sinnig, wenn EU-Parlamentspräsident Martin Schulz gestern Morgen die «Rede zur Lage der Union» von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit den Worten ankündigte: «Es ist der Moment, der zum Referenzpunkt geworden ist.» Umso mehr, als sich die EU gegenwärtig in einer «existenziellen Krise» befindet, wie Juncker in seinen einleitenden Worten offen zugestand.
Mit dem Blick auf die tiefen Gräben innerhalb der Gemeinschaft sagte Juncker: «Die Zahl der Bereiche, wo wir zusammenarbeiten, ist zu klein.» Doch im Grossen und Ganzen verzichtete er darauf, weiter Öl ins Feuer zu giessen und die erstarkten Fliehkräfte innerhalb der Gemeinschaft zu beschleunigen. Im Gegenteil: «Die Kommission hat nicht vor, die Nationalstaaten plattzuwalzen ... wir sind keine Nihilisten und Zerstörer – wir sind Konstrukteure, die nicht mehr, aber mancherorts ein besseres Europa wollen», sagte er mit Blick auf jene osteuropäischen Staaten, die die Fremdbestimmung aus Brüssel fürchten.
Doch die durch und durch politische Rede, eine glühende Wiederbeschwörung der europäischen Idee, wie es manche erhofft hatten, lieferte Juncker nicht. Die grossen Themen Brexit und Flüchtlingskrise streifte er bloss mit einigen Sätzen. An die Adresse der Briten sagte er unmissverständlich, den Binnenmarkt könne es nur mit der vollen Personenfreizügigkeit geben. Dem Populismus kreidete er an, dass er keine Probleme löse, sondern im Gegenteil nur solche kreiere. Auch forderte er von den europäischen Politikern, sich endlich glaubwürdiger zum gemeinsamen Haus zu bekennen. Doch zwei Tage vor dem Bratislava-Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs, der zumindest symbolisch als Zäsur und europäische Neubestimmung verstanden wird, gab sich der erklärte Präsident «einer politischen EU-Kommission» sehr konkret statt visionär.
Juncker präsentierte denn auch eine Vielzahl an Vorschlägen für die nächsten zwölf Monate, die dem Bürger unmittelbaren Nutzen bringen und, so die Idee, dessen Vertrauen zurückgewinnen wird. Zum Beispiel soll der sogenannte Juncker-Fonds, das 2014 gestartete Investitionsprogramm für Europa, ab 2018 für drei Jahre verlängert und das Volumen von 315 auf bis zu 630 Milliarden verdoppelt werden. Oder der Ausbau der Internet-Infrastruktur: Bis 2025 soll es in Europa ein flächendeckendes 5G-Netz und in den Zentren europäischer Grossstädte kostenfreies Drahtlos-Internet geben. Negative Effekte der Personenfreizügigkeit wie Lohndumping sollen wie mit der aufgegleisten Reform der Entsenderichtlinie vermieden und die notleidenden Milchbauern weiter unterstützt werden. Juncker: «Ich werde nicht akzeptieren, dass ein Liter Milch weniger kostet, als ein Liter Wasser».
Die wohl grösste Priorität setzt Juncker bei der Sicherheit. Er kündigte an, ein System zur Registrierung von Ein- und Ausreisen einführen zu wollen, damit wir «wissen, wer über unsere Grenzen kommt». Der Grenzschutz und die europäische Küstenwache müssten weiter vorangetrieben werden. Bulgarien versprach Juncker bis Oktober 200 zusätzliche Grenzwächter und 50 Fahrzeuge zum Schutz der EU-Aussengrenze. Zudem soll die gemeinsame Verteidigungspolitik vorangetrieben werden, möglichst hin zu einer Sicherheitsunion. Juncker: «Europa kann es sich nicht mehr leisten, militärisch im Windschatten anderer Mächte zu segeln oder Frankreich in Mali allein zu lassen.» Deshalb soll noch bis Ende Jahr ein gemeinsamer Verteidigungsfonds aufgegleist werden, um Rüstung und Innovation zu fördern. Ein zentrales Hauptquartier für militärische EU-Aktionen ist laut Juncker ebenfalls Teil der Sicherheitsstrategie.
Alles in allem kann des Kommissionspräsidenten Rede mit den drei Schlüsselwörtern «Bewahren», «Stärken» und «Schützen» zusammengefasst werden. Es sind Begriffe, die zwar nicht zwingend den Eindruck einer sich auf dem Rückzug befindenden EU vermitteln – aber dennoch einer Union, die um ihren Bestand zu kämpfen hat.