Die USA überstellen einen ehemaligen polnischen SS-Schergen an Deutschland. Kann man dem 95-Jährigen überhaupt noch den Prozess machen? Ein Gespräch mit dem letzten Nazijäger Jens Rommel.
Jens Rommel: Herr Palij ist nicht auf Betreiben der deutschen Justiz ausgeliefert worden. Es gibt in Deutschland kein Verfahren gegen den Mann und insbesondere liegt auch kein Haftbefehl vor. Die Auslieferung nach Deutschland war der Wunsch der US-Regierung, dem nun die Bundesregierung entsprochen hat.
Für uns ist die juristische Bewertung massgeblich. Also die Frage: Können wir einer Person heute noch nachweisen, dass sie eigenhändig einen Mord begangen oder sich an Morden durch eigene Handlungen beteiligt hat? In diesem Fall liegt hier die Schwierigkeit.
Der Jurist Jens Rommel (45) leitet seit Oktober 2015 die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Er gilt als Deutschlands letzter «Nazi-Jäger».
Die Überstellung von Jakiv Palij nach Deutschland ändert überhaupt nichts an unserer Beweislage. Es gibt derzeit keine laufenden Ermittlungen gegen ihn, die zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen hatte aber in der Vergangenheit bereits Material zusammengetragen – auch mit Unterstützung der USA – und diese Akte dann an die Staatsanwaltschaft Würzburg weitergegeben. Dort hat man geprüft, ob dem Beschuldigten Beihilfe zum Mord nachgewiesen werden kann. Die Staatsanwaltschaft hat ihr Verfahren 2016 eingestellt mit der Begründung, die hohe Hürde der persönlichen Verantwortung im Strafrecht könne nicht übersprungen werden.
Es gibt eine enge Zusammenarbeit unserer Stelle mit anderen Staaten, so auch mit den USA. Ich hoffe, wir haben alle Beweismittel auch in diesem Fall in Deutschland verfügbar. Aber die Massstäbe sind andere. Für die Ausbürgerung aus den USA genügt seine Lüge in den 1950er-Jahren, dass er bei der Einbürgerung in den USA seine SS-Mitgliedschaft verschwiegen hatte. Bei uns in Deutschland ist eine persönliche Verantwortung in einem Strafverfahren zu klären – also ein eigenhändiger Mord oder die aktive Unterstützung von Morden.
Wir haben in den vergangenen Jahren etwa 30 Fälle pro Jahr an die Staatsanwaltschaften übergeben können. Das sind Fälle, bei denen wir einen Verdacht beschreiben können und wissen, dass die Person noch am Leben ist. Letztes Jahr etwa haben wir Fälle zu den Konzentrationslagern in Buchenwald, Ravensbrück und Mauthausen an die Anklagebehörden übergeben. Derzeit sind vier Personen in Deutschland angeklagt, weil sie als Wachleute in verschiedenen Konzentrationslagern gearbeitet haben sollen. Wir hoffen, dass wir auch aus unseren aktuellen Ermittlungen noch weitere Beschuldigte ausfindig machen können. Das betrifft vor allem die Lager Sachsenhausen, Mittelbau-Dora, Gross-Rosen und Flossenbürg.
Die aktuellen Überprüfungen zu Konzentrationslagern ergeben sich letztlich durch einen neuen Blickwinkel auf diese Taten. Der Bundesgerichtshof hat im Fall von Oskar Gröning, dem so genannten «Buchhalter von Auschwitz», entschieden, dass alleine die Dienstausübung als SS-Mann in einer Vernichtungsmaschinerie wie Auschwitz zu einer Mitverantwortung führen kann. Dass das ausreichend ist für eine Beihilfe zum Mord. Diesen Ansatz haben wir über Auschwitz und Majdanek hinaus auch auf andere Konzentrationslager übertragen. Theoretisch kommen jetzt sehr viele Personen in Betracht, die man früher nicht behelligt hatte. Umgekehrt müssen wir aber wegen der langen Zeit seit Kriegsende feststellen, dass die allermeisten schon verstorben sind.
Wir haben geprüft, ob wir den Gedanken aus dem Fall Gröning über die Konzentrationslager hinaus auf andere Einheiten übertragen können. Es wird deutlich schwieriger, wenn wir uns von festen Lagerstrukturen lösen müssen und es zum Beispiel mit beweglichen Einheiten zu tun haben. Bei den Trawniki-Männern ist es so, dass die meisten direkt in den Vernichtungslagern Sobibor oder Treblinka eingesetzt waren. Aber andere Trawniki-Männer waren in beweglichen Kompanien eingesetzt. Die hatten unterschiedliche Aufgaben. Sie waren zum Teil an Massakern beteiligt, zum Teil hatten sie aber auch den Auftrag, Zwangsarbeiter in Fabriken oder in der Landwirtschaft zu bewachen. Nicht alles kann als Mord bezeichnet werden. Unsere Schwierigkeit im aktuellen Fall ist, dass wir nicht genau feststellen können, in welcher Einheit der Betroffene tätig war. Deshalb schaffen wir die Verbindung von persönlichem Verhalten zu den Verbrechen nicht.
Darauf gibt es eine ganz nüchterne Antwort, die aber mit der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik zu tun hat. Der Bundestag hat sich in mehreren Diskussionen dazu durchgerungen, dass Mord nicht verjährt. Das war gerade mit Blick auf die Verbrechen der Nationalsozialisten gedacht. Daraus erwächst die juristische Aufgabe, eine Aufklärung der Verbrechen zu versuchen: Was ist geschehen und wer ist dafür mitverantwortlich. Dahinter verbirgt sich natürlich auch eine politisch-moralische Verantwortung, denn es waren Verbrechen, die der frühere deutsche Staat organisiert hatte.
Ein Strafverfahren bei Mordfällen kann das Unrecht nicht beseitigen. Auch nicht durch eine angemessene Bestrafung eines Täters. Ich hatte den Eindruck, dass in den letzten Verfahren etwa gegen Ex-Wachmann Oskar Gröning es für die Opfer und Angehörigen wichtig war, gegenüber der deutschen Justiz zu Wort zu kommen. Sie waren ja nicht nur Zeugen in den Prozessen, sondern sie konnten sich als Nebenkläger an diesen Verfahren beteiligen. Dadurch wurde nicht nur die Geschichte des Angeklagten gehört, sondern auch die Geschichte der Opfer. Ich hatte den Eindruck, dass das für viele, die sich den Verfahren angeschlossen hatten, ein ganz wichtiger Prozess war.
In zehn Jahren werden wir sicher keine Vor-Ermittlungen mehr führen, bereits jetzt sind ja die jüngsten Beschuldigten 91 Jahre alt. Wenn hier keine Chance mehr besteht, lebende mögliche Täter zu finden, dann sollen die Akten nicht einfach verschlossen werden. Sondern das, was hier in Ludwigsburg zusammengetragen wurde, als Spiegel der Verbrechen, aber auch als Spiegel der jungen Bundesrepublik soll erhalten bleiben in einem Forschungs- und Informationsort.