Als die Schweiz deutschen Kindern ihre Hilfe anbot

Gunter Wieden war eines von über 40'000 Kindern, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz erholen durften. Bis heute ist er dem Land dafür dankbar. Auch, weil er für sein Leben gelernt hat.

Christoph Reichmuth, Berlin
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Gunter Wieden und seine Geschwister im Jahr 1949. (Bild: Privatarchiv)

Gunter Wieden und seine Geschwister im Jahr 1949. (Bild: Privatarchiv)

Einen Becher mit Ovomaltine könne er leider nicht anbieten, sagt Gunter Wieden und lacht laut auf. «Führe ich nicht bei mir zu Hause. Ist nicht gut für die Linie.» Ovomaltine, das hat Gunter Wieden zum ersten Mal getrunken, da war er 9 Jahre alt. Das ist nun 70 Jahre her, den süssen Geschmack nach Schoko­ladenmilch hat er noch heute auf der Zunge.

Wieden hat eingeladen in sein kleines Häuschen in Klausdorf, einer kleinen brandenburgischen Gemeinde südlich von Berlin. Lebendig erzählt er von seiner Zeit in der bernischen Gemeinde Herzogenbuchsee. Es ist idyllisch hier in der Gegend, nahe dem Haus gibt es einen kleinen See, der Garten des Ehepaars Wieden ist gepflegt, bunt und grün.

Fleisch und Käse auf dem Teller

Idyllisch war es auch in Herzogenbuchsee, die Luft so frisch, das Land so sauber. Es fuhren Züge durch das kleine Land mit seinen hohen Bergen, die waren elektrisch betrieben, stiessen nicht den schwarzen Russ aus wie damals die Dampfloks in seiner Heimat Deutschland.

Gunter Wieden, geboren im Juli 1939, und seine siebenjährige Schwester Gertraud besteigen im Frühjahr 1948 in Berlin einen Zug mit Hunderten anderen Kindern aus Berlin in Richtung Schweiz. Zwei Tage und eine Nacht sind sie unterwegs. Es ist ein Transport der Schweizer Kinderhilfe des Roten Kreuzes. Gunter Wieden und seine Schwester dürfen nun drei Monate in die Schweiz fahren, um sich zu erholen, zu stärken, um wieder zu Kräften zu kommen, die Tristesse einer zerstörten Stadt mit ihren traumatisierten Bewohnern hinter sich lassen. «Du gehst nun in das Land, wo Milch und Honig fliessen», sagt ihm die Mutter.

Die Unternehmerfamilie Schneeberger aus Herzogenbuchsee wird Gunter beherbergen. Als Gunter am Bahnhof in Herzogenbuchsee aus dem Zug steigt, stehen die Schneebergers schon dort. Gunter staunt zum ersten Mal, als er in den schicken Pontiac der Schneebergers steigt. Zu Hause angekommen, bezieht Gunter sein eigenes Zimmer. Es gibt eine erste Mahlzeit. Früchte, Gemüse, Fleisch, zur Nachspeise einen Käseteller. Gunter hatte monatelang nichts von alledem auf seinem Teller.

Gunter Wieden bei sich zu Hause. Bild: Rudi Renoir Appoldt (Wünsdorf, 12. September 2018)

Gunter Wieden bei sich zu Hause.
Bild: Rudi Renoir Appoldt (Wünsdorf, 12. September 2018)

Kinderhilfe mit langer Tradition

Etwa 44000 Kinder aus Deutschland dürfen zwischen 1946 und 1956 für drei, manche für sechs Monate in die Schweiz zur Erholung reisen. Die Kinderhilfe der Schweiz hat eine lange Tradition. Auch während des Zweiten Weltkriegs lief das Programm weiter, das seit den 1940er-Jahren unter der Schirmherrschaft des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) läuft. Die Schweiz war das erste Land nach dem Zweiten Weltkrieg, das den deutschen Kindern eine solche Hilfe anbot.

Gunter Wieden ist der Schweiz bis heute dankbar. Er hat in seiner Gastfamilie für sein Leben gelernt. 50 Rappen Sackgeld täglich erhielt der damals inzwischen Neunjährige von seiner Gastfamilie, das reichte exakt für eine Tafel Schokolade. «Ich bin jeden Tag zum Kiosk gelaufen und habe mir von meinem Taschengeld Schokolade gekauft», erzählt Wieden mit einem Lachen. «Eines Tages hat die Gastmutter gefragt, was ich mir und meinen Eltern von dem angesparten Taschengeld kaufen werde. Da musste ich ihr erklären, dass ich alles für Schokolade ausgegeben hatte.»

Die Gastmutter lehrt den kleinen Berliner, sparsam mit dem Geld umzugehen, und hält ihn dazu an, seine Mutter in einem Brief zu fragen, was sie sich nach seiner Rückkehr von ihm wünsche. Wieden spart die Rappen an, in Solothurn kann er sich mit dem Gesparten Stoff und zwei Glühbirnen und etwas Schokolade kaufen, wie es die Mutter gewünscht hat. Die Schneebergers decken Gunter mit einem schicken Anzug und Knickerbocker ein, ein Gastgeschenk. Die Kleidung kaufen sie extra zwei Nummern zu gross, damit er darin noch einige Zeit herumlaufen kann.

Gunter Wieden mit Verwandten nach dem Krieg in Berlin. Im Hintergrund sieht man Schutthaufen. (Bild: Privatarchiv)

Gunter Wieden mit Verwandten nach dem Krieg in Berlin. Im Hintergrund sieht man Schutthaufen. (Bild: Privatarchiv)

Nur zwei Stunden Strom am Tag

Kurze Zeit drückt Gunter unerwartet die Schulbank in Herzogenbuchsee, die Berlin-Blockade verhindert die geplante Rückkehr der Kinder. Das Internationale Rote Kreuz muss bei den Sowjets vermitteln, am 20. September reisen Gunter und seine Schwester zurück nach Berlin. Wohlgenährt, gesund und bei Kräften kehren sie in ihr teilweise ausgebombtes Haus in Wilmersdorf zurück, wo aus Obstkisten Möbel geworden sind und nachts um zwei Uhr der Wecker klingelt, weil es dann für zwei Stunden Strom gibt.

Die harten Monate der Berlin-Blockade übersteht Gunter gut, obwohl das Essen nun noch rarer ist. Als die Blockade im Mai 1949 aufgehoben wird, hat Gunter alle Pfunde verloren, die er sich in der Schweiz angefuttert hatte, «aber wir alle haben überlebt», sagt er heute.

Gunter Wieden kramt ein altes Fotoalbum hervor, eines der Schwarz-Weiss-Fotos, die er in das Album geklebt hat, zeigt Gunter zusammen mit seinen Geschwistern. Gunter lächelt zufrieden in die Kamera, im Hintergrund ist die Ruine des Hauses der Wiedens zu sehen. Stolz trägt er seinen Anzug und Knickerbocker, das Geschenk der Schneebergers. Viele Jahre später, in den 1970er-Jahren, fährt er auf der Rückreise nach einem Italien-Urlaub durch die Schweiz, steuert seinen Wagen nach Herzogenbuchsee und klingelt an der Türe der Schneebergers. Niemand öffnet die Türe.

In Berlin erfährt Wieden viele Jahre später, dass Herr Schneeberger da bereits verstorben war, Frau Schneeberger stirbt Jahre später. Könnte er die Zeit zurückdrehen, sagt Gunter Wieden, würde er früher nach Herzogenbuchsee reisen und den Schneebergers danken. Für den Honig, für die Milch und das Sackgeld, die Knickerbocker und die Ovomaltine. Und vor allem für einige Wochen Unbeschwertheit in seiner Kindheit.