Die SPD hat eine neue Spitze. Forderungen nach einem raschen Koalitionsausstieg bleiben chancenlos.
Das Berliner Regierungsbündnis aus CDU, CSU und SPD dürfte zumindest noch eine Weile Bestand haben. Die Sozialdemokraten gehen zwar mit neuen Forderungen in die Verhandlungen mit dem Regierungspartner um Kanzlerin Angela Merkel. Doch die Furcht vor dem Ausstieg aus dem Bündnis war dann doch zu gross.
Ein vom SPD-Führungsgremium vorbereiteter Leitantrag wurde gestern vom Parteitag mit grosser Mehrheit gutgeheissen. Die Genossen wollen deutlich mehr Investitionen in Infrastruktur und Bildung, Nachbesserungen für den Klimaschutz und eine höhere Bepreisung des Co2-Ausstosses sowie – perspektivisch – einen Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde.
Und weil die Union die Regierung ebenfalls nicht zum Platzen bringen will, dürften die Regierungspartner versuchen, in den nächsten Monaten einen Kompromiss auszuarbeiten. Wenigstens Zeit soll damit gewonnen werden.
Ob die Grosse Koalition tatsächlich noch zwei Jahre weiterarbeiten können wird, bleibt dennoch fraglich. Die Partei hat gestern deutlich den ehemaligen Finanzminister von Nordrhein-Westfalen, Norbert Walter-Borjans, und die baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Saskia Esken an ihre Spitze gewählt.
Die beiden skizzierten in ihren Bewerbungsreden, wie sie die Partei künftig neu aufstellen wollen. Die Partei gehe «nach vorne in eine neue Zeit», sagte Saskia Esken: «Hört ihr die Signale?» Sie kündigte an, dass die SPD die Partei sei, «die Hartz IV überwindet». Die Arbeitslosenregelung Hartz IV ist unter dem früheren SPD-Kanzler Gerhard Schröder eingeführt worden und ist verantwortlich dafür, dass Deutschland einen der höchsten Niedriglohnsektoren Europas ausweist.
Walter-Borjans, der in seiner dreiviertelstündigen Rede mehrmals das Wort «Umverteilung» benutzt hatte, machte zu Beginn einen Ausflug in die internationale Politik («die SPD wird als Partei der Abrüstung und Entspannung wieder mehr gebraucht»), um gegen Ende auf die Verteilungsgerechtigkeit zu sprechen zu kommen.
Freilich fehlte der Verweis auf seine Zeit als Finanzminister von Nordrhein-Westfalen nicht, als unter seiner Ägide Steuerdaten-CDs aus der Schweiz gekauft worden waren. Er wisse sehr gut, wie Steuerbetrug und Geldwäscherei zu bekämpfen seien. «Wir haben 19 Millionen Euro an Whistleblower überreicht und haben dadurch 7 Milliarden Euro für die Menschen zurückholen können», sagte er unter grossem Applaus und lobte sich dafür, dass er «Schäubles Steuerabkommen mit der Schweiz» verhindert habe.
Die SPD hatte den Parteitag gut vorbereitet. Offenbar wurden Ungereimtheiten im Vorfeld beseitigt, damit vom Parteitag nicht das Signal ausgehen würde, die Genossen seien nach der Urwahl ihres Vorsitzenden-Duos gespaltener als zuvor. Die meisten Votanten lobten die beiden neuen Parteichefs und warben dafür, die Grosse Koalition nicht überstürzt zu verlassen. Das tat selbst Kevin Kühnert, der Vorsitzende der Jungsozialisten Juso – und einer der schärfsten GroKo-Gegner der letzten Jahre.
Der inzwischen 30-Jährige scheint nun selbst ins Parteiestablishment aufgestiegen zu sein und bereitet seine eigene, zweifelsohne verheissungsvolle Parteikarriere vor. Die beiden neuen Vorsitzenden hätten die klare Botschaft ausgesandt, dass es mit der SPD kein «Weiter so» mehr gebe. Er warb für den Leitantrag, der die SPD zumindest vorerst in der Regierung belässt. «Ich nehme nicht wahr, dass irgend einer Oppositionssehnsucht in sich trägt.»
Einige Vertreter des linken Parteiflügels hielten an ihrer Forderung nach einem sofortigen Ende für das Regierungsbündnis in Berlin allerdings fest. «Wir müssen raus aus dieser grossen Koalition. Wir werden als Anhängsel wahrgenommen. Wir werden nicht als Antreiber wahrgenommen», sagte die Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis. Die Sozialdemokraten signalisieren, dass sie nach Jahren der Kompromisse in Regierungsbündnissen gewillt sind, sich nun tatsächlich zu erneuern. Am Parteitag war die Sehnsucht zu spüren, dass sich die Partei künftig für ein linkes Regierungsbündnis anbieten soll, zusammen mit den starken Grünen und der Linkspartei.
Doch die Skepsis, ob die Partei ihr Profil schärfen kann und die Erneuerung mit den Parteichefs Walter-Borjans und Esken gelingen wird, bleibt bei den Delegierten gross. Reinhardt Pollak, Vorsitzender eines kleinen SPD-Ortsverbandes in Niedersachsen, befürchtet, dass die Partei ihr eben gewähltes Führungsduo schon bald wieder vom Hof jagen wird – schliesslich habe seine Partei ihre Vorsitzenden in den letzten Jahren in schnellem Tempo ausgetauscht. «In der Fraktion sind die Konservativen so stark, dass das neue Führungsduo nun nicht einfach eine linke Politik durchdrücken kann.» Richtungskämpfe drohten schon bald wieder, befürchtet Pollak: «Ich bin skeptisch, ob das lange gut gehen wird.»