Bruno Koller war einer der erfolgreichsten Karatemeister ausserhalb Japans. Doch seine Krankheit verändert alles. Der Dokfilm «Tiger & Büffel» begleitet ihn auf seiner Reise.
Ein Schrei zerschneidet die Luft, gleich noch einer. Bruno Koller steht im Wald, kämpft gegen einen unsichtbaren Gegner. Er ist ein schwerer Mann, hat einen dicken Bauch. Doch seine Bewegungen sind flink, kontrolliert. Man sieht, dieser Mann ist ein Kämpfer. Eigentlich darf er aber nicht mehr allein in den Wald. «Es sei zu gefährlich», sagt er, «aber ich gehe extra und schaue ob ich wieder herausfinde.» Bruno Koller hat Alzheimer. Und er will sich nichts sagen lassen.
Der Luzerner Fotograph und Filmemacher Fabian Biasio hat seinen Protagonisten während acht Jahren mit der Kamera begleitet. «Tiger und Büffel» ist sein zweiter Kinodokumentarfilm. Der Film ist nahe dran, gibt intime Einblicke, beleuchtet Abgründe der Krankheit. Trotzdem bleibt der Blick auf Bruno Koller und seine Familie respektvoll, es geht nicht nur um Zerfall, sondern um Veränderung. Die Basis des Films ist ein starkes Vertrauensverhältnis: Fabian Biasio kennt Bruno Koller und seine Familie schon lange. Koller war sein Meister, Biasio trainierte rund zehn Jahre bei ihm Karate.
Die Kampfkunst war Kollers Leidenschaft, durchdrang jeden Bereich seines Lebens. Seine Passion hat er kompromisslos verfolgt. Als junger Mann reist er mit seiner Frau und dem neugeborenen Sohn nach Japan. Lässt sich ausbilden, wird zum Sensei, zum Meister. Zurück in der Schweiz, in Luzern, eröffnet er eine eigene Karate Schule. Er hat Erfolg, reist um die Welt und nimmt an Wettkämpfen teil.
Dann, kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag bekommt er die Diagnose Alzheimer. Und jetzt? Er begegnet der Krankheit als Herausforderung, als Gegner und will vor allem eins: Karate trainieren. Doch immer mehr ist er auf Hilfe angewiesen.
Die Patchworkfamilie Koller spannt zusammen. Sie organisieren sich, pflegen und betreuen den Vater, ermöglichen ihm weiterhin das geliebte Karate. Doch die Krankheit schreitet fort, Bruno Koller wird immer hilfloser. Mit der Hilflosigkeit kommen Wut und Schmerz. Darüber, dass es nicht mehr geht, dass man ins Heim muss, wo’s nur alte Leute und kein Karate gibt. Doch die Familie mobilisiert noch einmal alle Kräfte und organisiert eine letzte grosse Reise: An ein internationales Karatetreffen in Taiwan.
Die Auf der Reise entsteht eine Schlüsselszene des Filmes. Die Kamera bleibt oft ganz nahe bei Bruno Koller, folgt seinem Blick, der keinen Halt findet. Man hört seinen Atem, wie er vor sich hin murmelt, versucht die Situation einzuordnen. Dazu die Geräuschkulisse einer Grossstadt. Irgendwie ist alles viel. In solchen Szenen entsteht eine immersive Wirkung, die Krankheit wird fassbar, das Publikum bekommt ein Gefühl, wie es sich anfühlen könnte mit Alzheimer zu leben.
Es ist ein leiser Film, man braucht etwas Zeit um hineinzufinden, die verschiedenen Protagonisten kennen zu lernen. Es ist keine geradlinige Heldenreise, keine Demenz- oder Karategeschichte. Der Film bleibt vielmehr ungefähr, schneidet Themen an, lässt Ambivalenzen zu. Ein sensibles und vielschichtiges Portrait über die Liebe, das Konstrukt Familie, über einen radikalen Lebensentwurf und seine Konsequenzen. Und natürlich über Krankheit und wie sie die Menschen verändert, im Schlechten wie im Guten.
«Tiger und Büffel» von Fabian Biasio (CH Dok 2021). Ab 23. September im Kino.