BIOGRAFIE: 200 Karl Marx: Der gefährlichste Mann Europas

Vor 200 Jahren wurde er geboren, und noch immer hat er überall auf der Welt seine Anhänger. Wer Karl Marx wirklich war, erkunden zwei Biografien. Weitere Bücher beleuchten Geschichte und Aktualität des Marxismus.

Rolf App
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Marx lebt – nicht nur in etwas schummrigen Unterführungen wie hier in Berlin. (Bild: Artur Widak/Getty)

Marx lebt – nicht nur in etwas schummrigen Unterführungen wie hier in Berlin. (Bild: Artur Widak/Getty)

Rolf App

Ein von der Kommunistischen Partei Grossbritanniens gestiftetes Denkmal überragt seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof von Highgate im Norden Londons. Vier Pfund Eintritt kostet es, will man dem Bärtigen seine Aufwartung machen, der seit 1883 hier liegt und der als der Schöpfer des Marxismus gilt. Er selber hat das Wort nie gebraucht. Im Gegenteil. Aus seinen letzten Lebens­jahren ist der Satz überliefert: «Alles, was ich weiss: Ich bin kein Marxist.»

Doch wer ist Karl Marx dann, dessen Geburtstag sich am 5. Mai zum zweihundertsten Mal jährt? Dieser Frage spüren in zwei Biografien der Historiker Gareth Steadman Jones und der Naturwissenschafter und Philosoph Jürgen Neffe nach. Der Umfang ihrer Erkundungsgänge sollte dabei keineswegs abschrecken, denn beide Bücher sind sehr lebendig geschrieben. Jones fasst das Feld weiter, er beschreibt anschaulich die Welt, in der Marx sich mit seinen Gedanken bewegte. Neffe bleibt näher beim Menschen und bei diesen Gedanken selbst. Beide Vorgehensweisen haben ihre Qualitäten, sie ergänzen sich.

Der Marx, den Jones und Neffe beschreiben, muss einem dabei durchaus sympathisch werden. Das ist vielleicht sogar jenen Polizeispitzeln so ergangen, welche Familie Marx observiert haben. Sie beobachten einen kinderfreund­lichen Patriarchen, der ständig unter Geldnot leidet und sich dennoch eine Haushälterin und einen Sekretär leistet. Der jeden Tag zur British Library läuft, um dort zu lesen. Dessen Zuhause einem Bienenhaus gleicht, in seiner Mitte Jenny, eine «gebildete und angenehme Frau, die aus Liebe zu ihrem Mann sich an dieses Zigeunerleben gewöhnt hat und sich in diesem Elend ganz heimisch fühlt», wie es in einem Spitzelbericht heisst. Sie ist Mutter, Sekretärin, Gefährtin in einem.

Die zwei Gesichter des Karl Marx

Das ist der eine, der gemütliche, humorvolle Marx. Den andern hat Carl Schurz beschrieben, einer seiner radikaldemokratischen Mitstreiter, der es nach seiner Auswanderung in die USA dort bis zum Innenminister bricht: «Was Marx sagte, war in der Tat gehaltreich, logisch und klar. Aber niemals habe ich einen Menschen gesehen von so verletzender, unerträglicher Arroganz des Auftretens.»

Ähnlich beschreibt ihn der italienische Freiheitskämpfer Giuseppe Mazzini – als einen Menschen «mit scharfem, aber zersetzendem Verstand, herrschsüchtig, eifersüchtig auf den Einfluss anderer, und, wie ich fürchte, mehr Hass, wenn auch gerechtem, als Liebe im Herzen». Niemand weiss so sehr ein Lied von den Marx’schen Schattenseiten als Ferdinand Lassalle, der unangenehm erfolgreiche Begründer der deutschen Sozialdemokratie. Ihn überschüttet Marx mit antisemitischen Beleidigungen – obwohl er selber jüdischer Herkunft ist.

Nein, zum Denkmal eignet sich dieser Mann nicht. Aber faszinieren muss er noch immer, in seinem Leben wie in seinen Gedanken. Wie er im Selbststudium zum Philosophen reift und unbeirrbar seinen Weg geht, dabei an einem ewig unvollendet bleibenden Werk feilend, das muss Eindruck machen. Nicht nur wegen der Leistung, die darin steckt. Auch wegen seines Gehalts. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat denn auch auf die Frage, welche Lektüre er der jungen Generation empfehle, geantwortet: «‹Das Kapital› von Karl Marx, um die Welt zu verstehen.» Denn gerade der Kapitalismus unserer Tage gleicht in vielem dem Bild, das Marx vorgezeichnet hat – auch wenn sich seine Revolutions­prognosen im weichen Bett der Konsum­gesellschaft in Luft aufgelöst haben.

Hausmädchen Helene meldet einen Besucher

Marx hat wohl geahnt, dass seine Zeit noch kommen würde. Erst auf den Trümmern des Alten kann das Neue wachsen, hat er schon früh festgestellt. Und wichtiger noch: Bis das Alte zu Bruch geht, muss es erst zu seiner vollen Blüte gelangt sein. Auch seine eigene Stunde schlägt erst 1864. Bis dahin ist er ein mehrfach ausgewiesener Emigrant, erfolgloser, wenn auch mit hinreissenden Texten glänzender Journalist gewesen – und Privatgelehrter, dessen Werke kaum jemand liest. Nicht einmal das «Kommunistische Manifest» löst ein nennenswertes Echo aus. Doch Marx hält durch, ermutigt auch von Friedrich Engels, der neben Jenny der zweite grosse Glücksfall seines Lebens ist. Friedrich Engels: Das ist der Bruder im Geiste. Und: Er ist sein Geldgeber. Denn die Engels’sche Baumwollspinnerei in Manchester wirft genug auch für Marx ab.

1864 nun meldet das Hausmädchen Helene einen Besucher, der sich als Abgesandter eines Treffens von Arbeitervereinen zu erkennen gibt. Er lädt ihn ein, teilzunehmen, und Marx bekommt den Auftrag, eine Grundsatzerklärung zu verfassen – die mit der bekannten Parole endet: «Proletarier aller Länder, vereinigt euch!» Sie ist das Stichwort für das, was als «Erste Internationale» zum Prototypen jeder grenzüberschreitenden Arbeiterbewegung wird. Geschickt versteht Marx es, sich durchzusetzen. Trotz der aufreibenden Arbeit am «Kapital», trotz Krankheiten, trotz ewiger Geldnot nimmt er an allen möglichen Sitzungen teil. Sein Einfluss wächst, und mit der ­Pariser Commune von 1871, dem revolutionären Aufbegehren der Stadtbevölkerung nach dem verlorenen Deutsch-Französischen Krieg, wächst auch die Angst vor der Bewegung, deren Wortführer er ist. Die Presse warnt vor ihm als dem Anführer «einer gewaltigen Verschwörung mit dem Ziel des politischen Kommunismus». Jetzt ist Marx, was er schon immer sein wollte: der gefährlichste Mann Europas.

Doch die Revolution lässt auf sich warten. Und auch die deutschen Sozialdemokraten hören nicht auf ihn und ­Engels. «Kein leichtes Stück, mit den beiden Alten in London sich zu verständigen», sagt August Bebel, einer ihrer Anführer. Ein Denkmal, das ist Marx da noch keineswegs.

Jürgen Neffe: Marx – Der Unvollendete, C. Bertelsmann, 655 S., Fr. 38.90 Gareth Stedman Jones: Karl Marx – Die Biographie, S. Fischer, 891 S., Fr. 43.90