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Kultur
Das erste Festival «kulturerbe, tanz!» thematisiert im Südpol die jüngere Tanzgeschichte in der Schweiz: Mit älteren Choreografien, Diskussionen und Workshops, unter anderem mit dem Luzerner Kurt Dreyer, einem Mitbegründer der freien Szene.
Sie arbeiten seit den sechziger Jahren als Tänzer, Choreograf und Tanzpädagoge. Geben Sie am Festival «kulturerbe, tanz!» Workshops, weil Sie dieses Erbe selber verkörpern?
Kurt Dreyer: (lacht) Ja, deshalb wurde ich auch angefragt, ob ich eine ältere Arbeit von mir zeigen möchte. Aber dann habe ich an meinem eigenen Beispiel erfahren, wie schlecht die jüngere Geschichte des Tanzes in der Schweiz dokumentiert ist. Ich hatte zwar früh, Ende der Siebzigerjahre, eine Videokamera angeschafft. Aber die Aufnahmen sind alle auf Bändern gespeichert, die man erst einmal sichten und digital überspielen müsste. Das wäre ein immenser Aufwand.
Es gibt historische Choreografien, die in einer Tanzschrift festgehalten wurden und sich rekonstruieren lassen – wie Charles Weidmanns «Lynchtown» von 1936, das am Festival als französische Gastproduktion gezeigt wird. Eine Ausnahme?
Die Möglichkeit, Choreografien durch eine Notation festzuhalten, wurde allenfalls an Theatern praktiziert. In der freien Szene fehlten dafür die Kenntnisse. Vor allem deren Geschichte ist in den Jahren des Aufbruchs in den 70er-Jahren deshalb kaum dokumentiert. Die heutigen Tanzschaffenden kennen das Erbe kaum und können auch nicht darauf aufbauen. Das Projekt «kulturerbe, tanz!» will das ändern.
Wo entwickelte sich in der Schweiz der moderne Tanz?
Da muss man klar unterscheiden zwischen den Theaterhäusern, an denen sich nach dem Weltkrieg das klassische Ballett erst im grösseren Stil etabliert hatte, und den freien Tänzern und Truppen, die ab den späten Sechzigerjahren zu arbeiten begannen. Das ist ein entscheidender Unterschied zu heute, wo auch in vielen Theatern, wie in Luzern, statt Ballett moderner Tanz gezeigt wird. Das ist ein Vorteil für frei arbeitende Choreografen. Aber es bringt die freie Szene in eine schwierige Situation, wenn Theater dieselbe Art von Tanz zeigen, und das auf einem extrem hohen technischen Niveau.
Sie gehörten damals zu den Mitbegründern einer freien Szene. Wo holten Sie sich die Anregung für einen Tanz abseits vom Ballett?
Nach einer klassischen Ausbildung zum Tänzer in den späten 60er-Jahren in Lausanne ging ich ins Ausland. An der London School of Contemporary Dance, aber auch in Gastspielen amerikanischer Truppen wie jener von Martha Graham, lernte ich im Modern Dance Bewegungen kennen, bei denen ich dachte: Was, auch das kann Tanz sein? Nach der Rückkehr in die Schweiz entwickelte ich diese Erfahrungen weiter zu einem Stil, in dem die Bewegungen improvisatorisch frei, aber stark auf die Musik bezogen sind. Welch schwierigen Stand der freie Tanz damals in der Schweiz hatte, zeigt das Beispiel einer Freilichtproduktion in Luzern. Für diese bekam ich 1979 von der Stadt bei einem Budget von 70000 Franken gerade mal 2000 Franken. (lacht)
Wer waren Vorkämpfer und Mitstreiter in jener Zeit?
Wichtig war der deutsche Choreograf Sigrud Leeder, dessen Arbeit am Eröffnungsabend vorgestellt wird. Er hatte an der Folkwangschule in Essen sowie in London eine Ausbildung in modernem Tanz entwickelt und führte ab 1964 und bis zu seinem Tod 1981 eine internationale Tanzschule in Herisau. Eine weitere wichtige Figur war der international erfolgreiche Schweizer Tänzer Jean Deroc (1925 bis 2015), der Ende der 50er-Jahre als Choreograf am Stadttheater Luzern arbeitete. Deroc brachte mit seinem Schweizer Kammerballett auch Modern Dance und den damals populären Jazztanz auf die Bühne.
Die Stücke, die am Festival gezeigt werden, stammen aus den letzten 20 Jahren. Lassen sich von ihnen Spuren zu solchen Gründerfiguren zurückverfolgen?
Deroc hatte in Windisch die Königsfelder Festspiele begründet und den Tanz mit anderen Künsten zusammengebracht. Brigitta Luisa Merki führt diese Tradition mit ihrer Tanzplattform tanz&kunst königsfelden weiter. Am Festival wird ihre Choreografie «El canto nómada» von 1997 nicht von ihrer Tanzcompagnie Flamencos en route getanzt, sondern von einer Gruppe von Mujeres nomadas mit Brigitta Luisa Merki als Coach.
Auch die freie Szene hat Stars wie Philippe Saire hervorgebracht. Wieso fehlen sie im Programm?
Es gibt da durchaus weitere grosse Namen. Ein Beispiel ist die Choreografie «Schlafende Hunde» (2004) von Philipp Egli, der früh als grossartig-schräger Tänzer auf sich aufmerksam gemacht hatte. Seine Choreografie für das Theater St. Gallen wird jetzt von der Compagnie S Biel getanzt – wiederum mit Egli als Coach. Auch da findet ein Transfer zwischen Generationen statt. Im Übrigen dokumentiert die Auswahl, wie sehr sich der Tanz auch in der Schweiz in unzählige Truppen und Stile vervielfältigt hat.
Was hat diesen Aufschwung gefördert?
Eine wichtige Plattform bot von 1979 bis 1994 das CH-Tanztheater von Eve Trachsel. Für sie haben auch Saire oder Richard Wherlock gearbeitet, der später den Tanz am Luzerner Theater leitete. Aber der Boom in den 80er-Jahren kam, als auch andere Künste die Bewegung als Ausdrucksmittel entdeckten und integrierten, also mit dem weiten Bereich der Performance. Eine Voraussetzung dafür schufen die Hochschulen, die heute topprofessionelle Tanzausbildungen anbieten. Dafür muss man nicht mehr nach London gehen.
www.kulturerbetanz.ch