Die Luzernerin Nina Stähli macht in «Glory Land» spürbar, wie produktiv, dringlich und poetisch Wut sein kann. Die Publikation zeigt ihr Schaffen in seiner sprühenden Vielseitigkeit und brisanten Aktualität.
Dieser Anblick tut weh: Über eine braune Einkaufstüte ziehen sich Fadenstiche, als hätte jemand eine Wunde zugenäht. Nina Stähli ist treffsicher. Und expressiv. Macht das sichtbar, was wir nicht sehen wollen, in der Gesellschaft schönreden. Der menschlichen Gier, leidenden, rissigen Persönlichkeiten und Randgruppen, den «Outlaws», gilt ihre Aufmerksamkeit. Ebenso brüchigen Geschichtserzählungen, insbesondere derjenigen von Amerika als vermeintlich gelobtem Land.
Die in Berlin und Luzern lebende Nina Stähli betreibt in Luzern ihren eigenen Ausstellungsraum und hält sich bewusst fern vom klassischen Kunstbetrieb. In «Glory Land» zeigt sie verschiedene Werkzyklen, entstanden während ihres zweimonatigen Stipendienaufenthaltes in den USA, bei dem sie durch acht Bundesstaaten reiste. Das sorgfältig gestaltete, im Eigenverlag erschienene Buch hält ein roter Bindfaden zusammen, der Buchrücken ist offen, rot, blau, weiss die Seiten wie die US-Flagge.
Man blättert durch Fotografien und Stills aus dem Film «Glory Land – Land of Tears» im Wechsel mit einem Zyklus von Malereien auf Einkaufstüten sowie Skulpturen mit Arm- und Beinstümpfen. In den Malereien blicken uns geisterhafte Figuren entgegen, böse, fratzenhafte mit Gewehren und schaurige schwarze Hasen. Furios aufgetragen ist die Farbe, sind Spuren, Schichten sichtbar und auch hier: Stiche und Narben, manchmal verstörend nah herangezoomt. Die Schichten, ein Sinnbild für die Arbeit der Künstlerin, die ausgräbt, die Leichen aus dem Keller holt und sie zeigt, ohne zu moralisieren, mit Kraft und oft mit Humor.
Wut ist Nina Stählis schöpferischer Katalysator. Wut etwa über die Ungerechtigkeit, die während ihrer umfangreichen Recherchen in den USA zu den Vertreibungen indigener Völker aufgekommen ist. Das historische Thema ist angesichts der global betriebenen, geradezu menschenunwürdigen Flüchtlingspolitik hochaktuell.
Eine Figur mit übergrossem, vollständig mit schwarzen Haaren bedecktem Kopf taucht im Buch immer wieder auf – mal apathisch vor einer kitschigen Tafel mit den «Ten Commandments» sitzend, umgeben von einer Maria- und einer Jesusstatue, dann verloren in einer Entertainmentmeile in Tennessee oder liegend in einem tristen Hotelzimmer. Tearhead ist einer von Stählis fiktiven Protagonisten, den «Big Heads». Stellvertretend für die Vertriebenen, verschafft sich der Tränenkopf wortlos und apathisch eine unheimliche und gleichzeitig seltsam komische Präsenz.
Drei Texte, darunter von Fanni Fetzer, kontextualisieren die Werkzyklen, schälen Themen heraus, geben aufschlussreiche Hintergrundinformationen. Besonders nahe kommt den Lesenden die faszinierende Persönlichkeit Nina Stähli durch die Erzählungen ihres langjährigen Schaffenspartners, des Szenografen Daniel Hunziker.
Schlägt man das Buch in der Mitte auf, trifft man auf einen zweiseitigen dichten, klangvollen Text. Er macht poetisch erfahrbar, wie Widersprüche im Hier und Jetzt aushaltbar sind: «der Rausch des Zorns/das Rauschen der Wälder.» Zorn zulassend, wird diese Kraft im Text produktiv und öffnet sich im selben Atemzug für die berauschende Schönheit der Natur.
Nina Stähli: Glory Land. Eigenverlag, www.ninastaehli.ch, 248 S., Fr. 60.–. Zu bestellen über info@schauraum-luzern.ch