Kult-Theaterregisseur Fritsch: «Diese Frau ist ein Wunder!»

Herbert Fritsch inszeniert erstmals am Luzerner Theater die Oper «Salome» von Richard Strauss. Ein Gespräch über die Aktualität alter Stoffe, Femme-fatale-Klischees und den Umgang mit jugendlichen Delinquenten wie Fritsch einst selber einer war.

Urs Mattenberger
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«Allzu viel Komik geht da nicht – dafür ist die ‹Salome› zu bitter», so der auch als Spassmacher bekannte Herbert Fritsch.

«Allzu viel Komik geht da nicht – dafür ist die ‹Salome› zu bitter», so der auch als Spassmacher bekannte Herbert Fritsch.

Bild: Eveline Beerkircher (10. Dezember 2019)

In Opern wimmelt es von MeToo-Geschichten, schrieb unsere Zeitung mit Blick auf «Don Pasquale» in Zürich und «Tosca» in Mailand. Reiht sich da die «Salome» mit dem lüsternen Stiefvater Herodes mit ein?

Herbert Fritsch: Na ja, das ist ja die Frage nach der Aktualität des Stücks. Und Aktualisierungen interessieren mich als Regisseur generell nicht. Aktualisierung bedeutet ja, dass man ein Werk auf etwas bezieht, das momentan jeder versteht, weil es dauernd in der Zeitung und in den Medien behandelt wird. Aber Zeitungen sind das Gegenteil von Poesie, weil sie bloss Informationen und Meinungen verbreiten. Und Meinungen über die Welt abzugeben, das würde ich mir nie anmassen. Dafür weiss ich schlicht zu wenig.

Aber Regisseure fragen doch die von ihnen inszenierten Stücke nach solchen Meinungen über die Welt ab. Was bedeutet da, dass Salome den Kopf des Jochanaan fordert, damit sie endlich seinen Mund küssen kann?

Natürlich frage ich mich das, aber all diese Fragen führen bei einem derart komplexen Werk zu immer neuen Fragen. Eine erste Antwort bringt vielleicht die Premiere. (lacht) Genau dieser Reichtum an Perspektiven macht das Theater so wertvoll. Natürlich könnte ich jetzt endlos über die mögliche Symbolik dieses Kusses reden. Aber ich will die Vielfalt an Möglichkeiten bei den Zuschauern nicht einschränken, indem ich Wegweiser aufstelle und Filter einbaue. Diese würden den Blick auf das Werk genau so reduzieren wie eine vordergründige Aktualisierung. Hinter der Idee, dass man ein über 100 Jahre altes Stück aktualisieren muss, steckt ohnehin ein falscher Fortschrittsglaube.

Welcher Fortschrittsglaube?

Die Vorstellung, dass wir weiter sind als alle Autoren bis zurück zur Antike. Dabei glaube ich, dass wir auch solch alte Stücke noch gar nicht verstanden haben. Deshalb möchte ich die Vielschichtigkeit eines solchen Werks dem hippen Getue entgegenhalten, das immer schon eine Meinung parat hat. Die unglaubliche Theateraussage, die Oscar Wilde und Richard Strauss hier machen, hat ohnehin nichts mit dem Vulgärrealismus zu tun, den sich das Theater heute vom TV-Realismus und nicht aus der Wirklichkeit entlehnt.

Sie entwickeln Ihre Inszenierungen aus dem Spiel der Darsteller heraus. Und da steht Ihnen mit Heather Engebretson als Salome eine «Kindfrau» zur Verfügung, um die sich die Bühnen für diese Rolle reissen, schwärmte Intendant Benedikt von Peter. Wie prägt sie Ihre Inszenierung?

Zunächst muss ich sagen, dass Benedikt von Peter überhaupt grossartige Darsteller für diese Oper engagiert hat! Aber Heather Engebretson ist tatsächlich ein Wunder. Natürlich ist sie eine Frau, aber sie kann auf der Bühne so spielen, dass man glaubt, da steht ein zwölfjähriges Mädchen. Das habe ich so noch nie erlebt. Es ist auch nicht nur eine Frage der Körpergrösse, und es schafft in diesem Stück eine Spannung, die umwerfend ist. Das geht weit über den erotischen Aspekt hinaus, obwohl der natürlich im Stück eine wichtige Rolle spielt. Aber der Kindcharakter dieser Salome betont bei uns das Familienbild mit Stiefvater ­Herodes und Mutter Herodias.

Wird damit Herodes’ Lüsternheit erst recht zum Kindesmissbrauch und Salome mehr Opfer als Täterin?

Nein, auch da würde ich mich nicht so schnell festlegen. Schon Augustin hat in seinen Bekenntnissen festgestellt, dass man Kinder nicht einfach mit Unschuld gleichsetzen kann. Auch Kinder können Täter sein. Umgekehrt ist Herodes zwar ein geiler Bock, der seine Stieftochter vernaschen will. Aber auch er ist, wenn wir das mit einem ganz grossen Herzen anschauen, im Grunde eine hilflose Gestalt, wie alle Figuren in diesem Stück. Selbst Jochanaan hat als unnahbarer Heiliger etwas Lächerliches. Die jüdischen Gelehrten zanken sich, ohne sich einig zu werden. Im Grunde tappen alle im Ungewissen und auf wackligem Boden. Für mich ist die «Salome» deshalb ein Stück, in dem man sich wie in einem Traum verlieren kann. Tatsächlich tappen auch wir heute trotz aller Technologien genauso hilflos durch die Welt.

Salomes Tanz der sieben Schleier und ihr morbider Kuss machen sie zur Femme-fatale-Ikone. Wie gehen Sie mit den damit verbundenen Klischees um?

Das wissen wir noch nicht, ich stelle ja auch in den letzten Tagen vor der Premiere noch manches um. Der Tanz kann ja über banale Erotik hinaus für ein Mysterium stehen, das uns über den Alltag hinausführt. In unserem Familienbild kann zudem etwas vom Tanz eines Kindes vor seinen Eltern drin stecken. Die Besessenheit, mit der Salome den Kopf des Jochanaan fordert, kann ebenfalls vieles bedeuten: Reife, weil sie erstmals eine eigene Entscheidung fällt, oder Verwahrlosung. Vielleicht zerstört sie, was sie begehrt, weil sie früher missbraucht wurde, was mir aber dann doch zu einfach wäre. Vielleicht steckt auch etwas vom Jähzorn drin, mit dem Kinder um Süssigkeiten quengeln und ihre Eltern zur Weissglut treiben. Oder es ist noch etwas ganz anderes drin: Ich arbeite immer an Stücken, die ich nicht verstehe.

Als Regisseur sind Sie auch ein grosser Spassmacher – zuletzt in Luzern in György Ligetis Groteske «Le Grand Macabre» und in «Totart Tatort» in Zürich. Wie viel Spass verträgt die «Salome»?

Die Figuren bewegen sich alle auf einem schmalen Grat zwischen Tragik und Lächerlichkeit. Da gibt es viele Momente, die saukomisch sein könnten. Gerade deshalb ist es nicht einfach, den richtigen Weg zu finden. Allzu sehr diese komische Seite auszuspielen, geht nicht. Dafür ist das Stück zu (denkt nach) – bitter. Ja, das ist das Wort, das Salome sagt, nachdem sie die Lippen des Kopfs des Jochanaan geküsst hat.

Für diese monströse Tat lässt Herodes Salome hinrichten. Sie selber wurden als 22-Jähriger für Einbrüche, mit denen Sie sich Drogen finanzierten, milde bestraft. Wie beurteilen Sie heute Forderungen nach härteren Strafen für kriminelle Jugendliche?

Das ist Blödsinn! Ich stand damals kurz davor, wirklich schlimme Sachen zu machen und hatte Glück, dass ich in einer Kleinstadt im erzkatholischen Bayern einen grossherzigen Richter fand. Er zeigte mit dem Finger auf mich, schaute mir in die Augen und sagte: «Herbert, jetzt gehst du durch diese Türe hinaus und kommst nie mehr zurück!» Das war so väterlich, so fürsorglich, dass es mir den nötigen Impuls gab und ich es bis heute nicht vergessen habe. Er liess mich ein zweites Mal auf Bewährung frei unter der Bedingung, dass ich einen Beruf erlernen würde. Da ging ich auf die Schauspielschule und wurde Schauspieler. Deswegen sage ich immer: Das Theater hat mir das Leben gerettet.

Aber nicht alle jugendlichen Straftäter können Schauspieler werden.

Müssen sie auch nicht. Aber Jugendliche brauchen Betätigungen, für die sie sich begeistern können. Heute läuft das oft in die umgekehrte Richtung. Das Theater wird wie vieles andere schlechtgeredet, an Schulen in Deutschland werden Schwimmkurse und andere Angebote gestrichen, weil dafür angeblich das Geld oder die Infrastruktur fehlt. Und wir Erwachsenen machen vor, dass man Konflikte bis hin zu Kriegen nur mit Gewalt lösen kann. Statt draufzuhauen braucht es Herz, Hilfe und Vertrauen. Sonst muss man sich nicht wundern, wenn Jugendliche mit all der Energie, die in ihnen steckt, plötzlich Dinge tun wie Salome, wenn sie den Kopf des Jochanaan fordert.