Nach dem angekündigten Rückzug aus Leipzig blickt man Riccardo Chailly in Luzern noch gespannter entgegen. Erwartungen weckte auch ein Dokumentarfilm.
Fritz Schaub
Ein beeindruckender Bücherschrank, ein Metronom tickt, die Kamera schwenkt auf eine Hand, die den Takt schlägt, und langsam erscheint das nachdenkliche Gesicht von Riccardo Chailly. Er blickt in die Partitur, summt eine Melodie, während der langsame Satz einer Mahler-Sinfonie erklingt. Er blättert in der Partitur, macht fleissig Notizen, überprüft die Stelle am Klavier.
Dann ein harter Schnitt: Chailly steht auf dem Balkon und betrachtet die Landschaft vor ihm – es ist, wie wir später erfahren, das Engadin, wo er am besten Ruhe finden und konzentriert arbeiten könne. So beginnt das 2013 entstandene Filmporträt über den künftigen Chef des Lucerne Festival Orchestra, das SRF1 kürzlich ausstrahlte und auf seiner Homepage noch immer zur Verfügung stellt.
Das ungewöhnliche Porträt verzichtet darauf, einen jettenden Weltstar im grellen Rampenlicht zu präsentieren. Stattdessen: der Dirigent im Kreis seiner Familie, die ihm die spirituelle Kraft gibt, ohne die er sich seine musikalische Tätigkeit nicht vorstellen könnte, und immer wieder Ausschnitte aus Proben und Konzerten, zumal mit der vierten, fünften und sechsten Sinfonie von Gustav Mahler im Leipziger Gewandhaus.
Man spürt, wie intensiv das Verhältnis Chaillys zu diesem Komponisten ist und mit welcher Energie und Akribie er sich auch bei der x-ten Wiederbegegnung in dessen Sinfonien versenkt. Bei den Anfängen fehlt natürlich nicht der Hinweis auf sein grosses Vorbild Abbado, der den 18-Jährigen zum Assistenten für die sinfonischen Konzerte der Filarmonica della Scala machte.
Den leidenschaftlichen Operndirigenten lernt man nicht im legendären Opernhaus in Mailand kennen, zu dessen Musikchef Chailly erst in diesem Jahr gewählt wurde. Statt dessen sehen wir ihn im spanischen Valencia bei Proben zu Puccinis «La Boheme» in Calatravas futuristischem Palau de les Arts Reina Sofia. Selbst da kommt Mahler ins Spiel: Chailly erkennt erstaunliche Parallelen zwischen dem schon zu Lebzeiten wie ein Popstar bejubelten Italiener und dem aus Böhmen stammenden Österreicher, etwa was die Raffinesse der Orchestrierung betrifft.
Aber Mittelpunkt im Filmporträt von Paul Smaczny ist Leipzig und sein Gewandhaus-Orchester, von dem mehrere Mitglieder zu Wort kommen. Mit Blick auf die von Abbado geprägte Tradition des Lucerne Festival Orchestra sind zwei Aussagen bemerkenswert. Chailly fordere viel vom Orchester, sei aber bereit, selber von ihm Impulse zu empfangen und sich inspirieren zu lassen, und weiter: Auch wenn in der Generalprobe das Limit bereits erreicht scheine, könne der Dirigent am Konzert immer noch mehr herausholen.
Inzwischen wurde überraschend bekannt, dass Chailly das Leipziger Gewandhaus 2016 vorzeitig verlassen wird, obwohl der Vertrag bis 2020 dauert. Will sich der 62-Jährige, ähnlich wie damals Abbado, als er die Berliner Philharmoniker verliess, entlasten und sich auf das Lucerne Festival Orchestra und die Position an der Mailänder Scala konzentrieren?
Michael Haefliger, der Intendant des Lucerne Festivals, vermutet, die mit den häufigen Ausland-Tourneen des Orchesters verbundene Belastung könnte Chailly zu seinem Entschluss bewogen haben. «Auf jeden Fall ist die Nachricht nicht negativ für das Lucerne Festival und sein Festspielorchester», meinte er lakonisch.
Hinweis
Das Filmporträt von Riccardo Chailly, Paul Smacznys «Musik – eine Reise fürs Leben», ist noch zwei Wochen verfügbar auf www.srf.ch
Soeben erschienen ist auch ein Buch über Chailly, das unter dem Titel «Das Geheimnis liegt in der Stille» Gespräche über Musik mit ihm enthält (Bärenreiter/Henschel-Verlag, 192 Seiten, Fr.32.90)