Luzerner Theater: Eine doppelte Dosis Dostojewski steht bevor

Das estnische Regieduo Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo inszeniert am Luzerner Theater Fjodor Dostojewski im Doppelpack: Aus seinem Roman «Schuld und Sühne» machen sie «Sühne» in der Box und «Schuld» auf der Bühne.

Interview: Katharina Thalmann
Drucken
Zwei estnische Regisseure – Ene-Liis Sempre und ihr Mann Tiit Ojasoo – inszenieren am Luzerner Theater. (Bild: Boris Bürgisser, 25. Januar 2019)

Zwei estnische Regisseure – Ene-Liis Sempre und ihr Mann Tiit Ojasoo – inszenieren am Luzerner Theater. (Bild: Boris Bürgisser, 25. Januar 2019)

Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo, Sie proben gerade zwei Produktionen auf zwei Bühnen – wie läuft es?

Tiit Ojasoo: Da beide auf dem gleichen Text basieren, bereichern sie sich gegenseitig.

Semper: Aber die Spielorte haben unterschiedliche Atmosphären. In der Box kann man eine realistische Situation kreieren. Wir haben eine grossartige Gastschauspielerin aus Ungarn, Annamaría Láng. Im Theater steht das Ensemble im Fokus, alles ist viel verdichteter und übertriebener.

Sie zeigen «Sühne» in der Box und «Schuld» im Theater. Wie kamen Sie auf die Idee, die zwei grossen Themen von Dostojewskis Roman von 1866 zu separieren?

Semper: Es geht nicht so sehr darum, die Themen zu separieren, sondern darum, unterschiedliche Perspektiven zu zeigen. In der Box ist es die Perspektive einer Frau, die keine Hauptfigur im Buch ist. Aber ihre verletzliche Position und todtraurige Geschichte haben uns berührt.

Ist das die Rolle der Sonja Marmeladowa, die sich prostituieren muss, weil ihr Vater Marmeladow an seinem Alkoholismus gestorben ist?

Semper: Nein, es ist ihre Stiefmutter Katerina. Sie ist zu Hause, leidet und kann nichts tun. Auf der Bühne fokussieren wir uns auf Raskolnikows Perspektive. Seine Verbrechen verfolgen ihn wie Albträume, und er versucht zu verstehen, was und warum er das getan hat. Aber die Realität ist noch schlimmer: Alle, die ihn umgeben, machen ihn paranoid.

Dostojewski hat hohe moralische Standards, und seine Figuren stehen symptomatisch für bestimmte moralische Charakteristika. Wie projizieren Sie das auf die Leinwand unserer Zeit?

Semper: Der Verbindungspunkt zwischen unserer Zeit und Raskolnikow ist: Wir träumen davon, einzigartig zu sein. Das ist auch die Botschaft unserer Zeit. Diese Art von Selbstregulation findet sich sowohl bei Raskolnikow als auch bei uns. Aber was passiert, wenn wir es nicht schaffen? Dostojewskis Antwort ist: Alles, was Menschen machen können, ist, zu leiden. Leiden ist ein zentraler Aspekt der Lebenserfahrung.

Sie arbeiten seit 20 Jahren zusammen. Ist das Theater für Sie ein idealer Ort, solche Diskurse zu starten?

Ojasoo: Ich weiss nicht, ob der Ort ideal ist. Er ist aber sicher ein möglicher Ort, um diese Diskurse zu starten, das haben uns die vergangenen 20 Jahre als Theatermacher bewiesen.

Semper: Für uns geht es im Theater um starke physische Präsenz der Schauspieler und darum, Fragen zu stellen – nicht unbedingt, die Antworten zu geben. Die Performance passiert bei den Zuschauern. Die Bühne gibt dazu den Impuls.

Ihr Bühnenbild ist sehr realistisch: Es zeigt eine 3-Zimmer-Wohnung, inspiriert von der russischen Kommunalka. Die Gemeinschaftswohnform existierte im Russland des 19. Jahrhunderts, in der UdSSR und bis heute.

Semper: Ja, das ist für uns ziemlich neu. Manchmal sind unsere Bühnen ganz leer, oder ganz ab­strakt – eine so realistische Situation wie hier ist bei uns selten. Das macht die Übertreibung der Charaktere und die Videoprojektionen umso wichtiger. Der Realismus muss mit etwas Groteskem ausgeglichen werden.

Ojasoo: Genau, es sollte stets eine Spannung zwischen dem Raum und den Aktionen bestehen.

Ihr Film «Ash and Money» von 2010 dokumentiert ein Theaterprojekt, das Sie mit Ihrem Theater NO99 aus Tallinn durchgeführt haben und das in einem Parteitag mit 7500 Teilnehmenden gipfelte. Können Sie etwas darüber erzählen?

Ojasoo: Wir haben eines Tages eine Pressekonferenz abgehalten. Dort haben wir verkündet, dass wir von jetzt an eine politische Partei in Estland spielen. Und zeigen würden, wie bessere Politik funktioniert.

Semper: Haben wir gesagt, «bessere Politik»?

Ojasoo: Ja, wir haben allerhand Dinge versprochen. Der Hintergrund war: Zehn Jahre zuvor hat eine Partei die Wahlen gewonnen, die sich mehr oder weniger gleich formiert hat. Und es standen wieder Wahlen bevor – alle warteten auf eine neue politische Kraft. Die Leute dachten, wir würden wirklich eine Partei gründen.

Sie sagten aber, Sie würden so tun als ob?

Ojasoo: Ja, schon. Aber alle schienen diesen ersten Satz vergessen zu haben.

Semper: Wir kopierten visuell alles, was Politiker tun: Poster, Werbefilmchen zur Primetime ... Das Spiel zwischen Realität und Illusion bewegte sich immer an der Grenze: Die Hälfte des Publikums am Parteitag kam aus politischem Interesse und um uns zu unterstützen. Die andere Hälfte kam für die Theatershow.

Zurück nach Luzern: In «Sühne» in der Box sitzen die Gäste an Tischen. Sind sie auch Teil des Stücks?

Semper: Ja, es gibt zu essen und zu trinken. Man ist Teil eines traurigen Leichenmahls, das Katerina veranstaltet. Das ist im Buch eine sehr schöne Szene. Und Annamaría Láng ist eine Schauspielerin, die mit dem Publikum kommunizieren kann. Das wird sehr persönlich und intim.

Fühlt es sich an, als würden Sie an zwei Stücken zugleich arbeiten, oder eher an einem Stück mit zwei Spielorten?

Ojasoo: Laut Arbeitsplan arbeiten wir an zwei Produktionen gleichzeitig. Es sind total verschiedene Dinge: Ich würde empfehlen, beides zu sehen, um die volle Dostojewski-Dosis zu kriegen.

Premieren am Mi., 30. Januar, «Sühne» um 18 Uhr in der Box. «Schuld» um 19.30 Uhr. Bis zum 24. Februar läuft beides achtmal an denselben Daten. Der Film «Ash and Money» über die Gründung der fiktiven Partei «Unified Estonia» ist verfügbar unter www.no99.ee/producti ons/no55-ash-and-money