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Investorgigant, Schönheitschirurg, TV-Mogul, Trump-Mäzenin, IS-Stratege: «Die grosse Menschenschau» im Schulhaus St. Karli Luzern ist ein packendes Theater der freien Szene.
Im Dachgeschoss doziert John de Mol, Erfinder des Reality Fernsehens, den Zynismus seines Businessmodells, während er Dartpfeile auf die Scheibe wirft. In der Waschküche stochert die philippinische Content-Managerin Salita durch den Müll der Pornografie und der Gewalttaten im Internet. Sie zensuriert Bilder und Videos von Brüsten, Penissen und blutigen Massakern für einen Dollar die Stunde. Larry Fink, Boss der Vermögensverwaltung Black Rock, treffen wir im WC im zweiten Stock. Hinter geschlossener Klo-Tür setzt er zum Monolog an, betätigt die Spülung, kommt raus und schnorrt sich weiter durch die Erfolgssträhnen seines Geldimperiums.
Im 19. Jahrhundert zogen Freakshows durch die Lande und führten dem Volk Zwergwüchsige, Missgebildete, Elefantenmenschen und Vertreter von «primitiven Stämmen» aus aller Welt vor. In der grossen Menschenschau, die als Gemeinschaftsproduktion von Theaters Aeternam, Fetter Vetter & Oma Hommage im St. Karli Schulhaus gezeigt wird (Regie Damiàn Dlaboha, Dramaturgie Béla Rothenbühler), darf das Publikum reale Figuren von hier und jetzt begaffen: Giganten der Macht, Egomanen und Optimierer, die uns der letzten Illusion von sogenannter Menschlichkeit berauben.
Oder auch nur scharf klarstellen, dass sich Werte und Utopien längst erübrigt haben. «Werfen Sie einen ungenierten Blick auf die Krüppel des Humanismus», heisst es treffend im Programmheft dazu.
Das Theater ist ein Museumsrundgang zu ausgewählten «Exponaten» des zeitgenössischen Homo Sapiens. Die Typen berichten in viertelstündigen Monologen von ihren Leidenschaften, stellen sich dar. Das Publikum zieht von Raum zu Raum. Wir befinden uns in der wunderbaren Kulisse des Schulhauses St. Karli, wo Kinder und Jugendliche die Welt, das Wissen und die Werte kennen lernen – oder was davon übrig geblieben ist. Wir sehen die Zeichnungen an der Wand, die parkierten Kickboards im Keller, die ausgestopften Tiere in der Vitrine, lesen die freundlichen Hinweise der Pädagogik oder die Merk-sätze der Hausordnung in den Gängen.
Ein paar Minuten später sitzen wir im Kindergartenzimmer, wo eine Gestalt im langen weissen Gewand und mit monströs verschwärztem Gesicht am Tischchen Platz nimmt. Fast zärtlich summt der IS-Stratege Abu Bakr Nadji, umrundet von Plüschtieren, einen Song der Ramones vor sich hin, um dann den Bogen zu seiner Poesie der Grausamkeit zu spannen. Fast fühlt man sich ein wenig geborgen in dieser grossen Ruhe der Konsequenz, eingedenk der vorangegangenen Monologe, mit denen uns die Milliardäre der Macht auch nur ihre Perversion und unsere sinnentleerte Ohnmacht bestätigten.
Wenn immer zu jeder halben Stunde der elektronische Drone-Sound im Treppenhaus verstummt (Musik David Inauen), werden die Exponate als Figuren lebendig. Die Typen sind schlicht kostümiert. Es sind die krassen Gesichtsbemalungen und -verunstaltungen, die ihr Wesen zeichnen (Maske: Sabine Flückiger, Linda Schmutz). Sie sind so extrem überhöht, wie die Abgründe tief sind, in denen sie uns zurücklassen. Die Individualisten des schauspielerischen Ensembles agieren und performen ausnahmslos hervorragend (an der Premiere: Christoph Künzler, Nicole Lechmann, Ursula Hildebrand, Christoph Fellmann, Annabelle Sersch, Marco Sieber, Zora Schelbert, Matthias Kurmann, Irene Wespi).
Jedes Exponat monologisiert einen brillanten Text (Christoph Fellmann), den man sich getrost mehrmals vor Augen und Ohren führen könnte. Es sind Destillate aus Internetrecherchen und Büchern, die der Autor zu packenden Essenzen verdichtet und formal auf die einzelnen Typen zugeschnitten hat. Mit jeder Figur wird auch der Raum, in dem sie auftritt, zu neuem Leben erweckt: Bibliothek, Werkraum, Kindergarten, Handarbeit, Musikzimmer, WC. Die Monstrosität wohnt unter uns. Auf einer Theaterbühne könnte man sich die Menschenschau nach dieser Premiere schon gar nicht mehr vorstellen. Aber warum nicht auf der Seebrücke, im Helvetiagärtli, vor dem KKL, an einer Strassenkreuzung. Die Realityshow der Normalität ist auch ein Theater. Die Exponate sind wir.
«Die grosse Menschenschau» ist als Langzeitprojekt angelegt. Nach zwei weiteren Vorstellungen heute und morgen wird sie ab Oktober 2018 bis Ende 2019 einmal jeden Monat im Schulhaus St. Karli gezeigt. Es können Mehrfachkarten oder auch ein Generalabonnement gekauft werden. Das Spektrum der Exponate wird im Lauf der Monate sukzessive erweitert und aktualisiert. Für Spannung und Schauder ist gesorgt.
In diesem Museum lernt man das Gattungsexemplar moderner Mensch in seinen verstörenden Auswüchsen kennen. Die Besucher können während der drei Stunden kommen und gehen, wie sie wollen. In den Pausen zwischen den Szenen holt man sich ein Getränk aus dem Kühlschrank, isst ein Stück Kuchen oder versucht zu verdauen, was einem eben unter die Haut ging.
Nächste Vorstellungen: 15./16. September, 20 Uhr, Schulhaus St. Karli. Und dann: 18. Oktober, 8. November, 6. Dezember. Weitere Daten und Informationen: www.menschenschau.ch