Rolf Lyssys neuster Film «Die letzte Pointe» hat alle Elemente, um zu einem weiteren Kassenschlager zu werden. Er handelt vom Einnachten der Sinne, von Alter und Tod.
Max Dohner
Zwei Frauen unterhalten sich im Zürcher Restaurant Terrasse sehr lebhaft. Wohl im Glauben, ihr Tschechisch verstehe hier niemand. Ein Wort aber ist deutsch und deutlich genug: «Schweizermacher». Eben ging Rolf Lyssy vorbei. Lyssys Film, grösster Kassenschlager bis heute in der Schweiz, verblüffte auch das Ausland: «Steht die Welt Kopf? Schweizer lachen über sich selbst!» Das ist fast vierzig Jahre her und hat anscheinend nichts weggespült vom Ruhm, wie das Gespräch der zwei Frauen zeigt. «Ist ja schön», sagt Lyssy, «aber langsam habe ich es gehört.»
Nun, ab sofort steht der Regisseur wieder ganz in der Gegenwart – mit seinem neusten Film «Die letzte Pointe». Er wird Lyssys ganz grosser Streich. Der Film ist mindestens so stark wie «Die Schweizermacher». Sein Thema aber schneidet noch tiefer ins Mark, geht buchstäblich ans Lebendige. «Die letzte Pointe» erzählt vom Einnachten der Sinne, von Alter und Tod. Doch diesen Schnitt empfindet man dank Lyssys ganz eigenem Zauber und Stil als Belebung, als Wohltat. Das Ganze ist Komik mitten aus dem Kummer, Unerbittlichkeit mit Charme, ist ganz Sorge und Swing. Der humane Schnitt – genau das ist Lyssys Kunst.
Im Zentrum steht Gertrud Forster, 89 Jahre alt – Lyssy ist 81. Gertrud fürchtet, «gaga» zu werden, dement. Sie vergisst schon dies und das. Aber Familie, Arzt und Anwalt sagen, sie scheine völlig klar im Kopf. Gertrud indes hat Grund zur Furcht – wie Lyssy alles aus den Figuren selber erklärt, ist Teil seiner Meisterschaft: Erstens geht bei einer Nahestehenden gleichen Alters der Vorhang zu. Zweitens aber, schwerwiegender noch, steht plötzlich ein angegrauter Gentleman vor Gertruds Tür, mit Blumenstrauss. Sie habe ihn doch auf einer Partnersuche-Plattform kontaktiert. Noch während ihrer Bestürzung wird Gertrud die Konsequenz von allem klar: Entweder Exit (im Film «Transit» genannt), oder sie gibt das Heft überhaupt nicht mehr aus der Hand, indem sie Hand anlegt an sich. So unbeirrbar wie strategisch kühl, studiert sie diverse Methoden hierfür.
Kaum jemand kennt den Plan. Ahnungen sind da, bei der Tochter, bei der Urenkelin; missverstanden und bevormundet wird die «gschpässige» Eigenbrötlerin natürlich auch. Die Verwirrung hält auch deshalb an, weil Gertrud gewisse Personen ins Vertrauen zieht – und sie damit in einen Zwiespalt treibt. Die Noblesse, mit der die meisten Figuren agieren, tragen ebenfalls bei zum Leuchten des Films. Dessen Ende oder letzte Pointe sei freilich nicht verraten.
Zwei Geheimnisse seiner Wirkung aber kann wohl nur der Regisseur selber klären. Deshalb trafen wir Rolf Lyssy im «Terrasse» zu einem Gespräch.
Erstes Geheimnis: Wie schafft man es, Dinge zu verbinden, die eigentlich unmöglich zu vereinen sind? Tragödie und Komödie, Angst und Scherzen. Lyssys ganzen Film durchzieht ein ruhiger Erzählrhythmus, in sanften Intervallen pulsierend, eine Aura, die nie in sich zusammenfällt, worin ein Element auch nie das andere widerruft, löscht oder bricht. Rhythmus ist für Lyssy das zentrale Element einer Erzählung: «Nicht rhythmisiert ist ein Film nicht zu rezipieren.» Bei einer Handvoll Figuren müsse erst mal klar werden, wer mit wem wie zusammenhängt. Also nehme er da schon Tempo zurück. Und warum hält er es dann weiter durch, ungewohnt ruhig im Vergleich zu heutigen Kino- und TV-Shootern? «Man muss mitgehen können im Denken», sagt Lyssy. «Ich habe die Entwicklung der letzten 50, 60 Jahre miterlebt, vor allem in den Medien. Die Beschleunigung ist unerträglich geworden; die Leute kommen nicht mehr mit. Jede Menschlichkeit aber liegt darin: sich über die Augen, im Fühlen und Denken zu begegnen in einem Tempo und in einer Art, die sorgfältig achtet auf das Menschenmass.»
Und das zweite Geheimnis: Lyssy erarbeitete den Film in einem endlosen Hin und Her, wo Inneres und Äusseres an ihm zerrten, ein Auf und Ab über Jahre, etappiert, so nicht gar zerstückt. Die Jahre schienen es darauf anzulegen, ihn dauernd zurückzuwerfen, zu zermürben.
Tatsächlich erlitt Lyssy einen Zusammenbruch und musste sich in einer Klinik lange behandeln lassen gegen eine tiefe Depression. Lange fand er nicht genug Mittel für den Film und legte das Projekt auf Eis. Er schrieb das Drehbuch um, zusammen mit Autor Dominik Bernet, fing wieder an. Und zuletzt, mitten in den Dreharbeiten, stürzte Lyssy vom Velo und verletzte sich schwer. Sohn Elia besuchte ihn täglich zur Besprechung im Spital und übernahm draussen den Part, rettete die Sache. Und jetzt: Nichts davon ist dem Film anzumerken. Wie in einem – sicher grossen und langen – Atemzug ist er erzählt.
Lyssys «Die Schweizermacher» stellte letztlich die Frage nach der Identität jedes Menschen. Das tut «Die letzte Pointe» auch, mit einem elementaren Unterschied: Der Tod kennt keine «Fremden», die man für die Heimat prüfen muss. Der Tod stellt unbesehen Pässe aus für jedermann. Darum sitzt auch jeder im Kino und weiss: Gertrud, Arzt oder dieser englische Galan, egal, keine Chance, jede Figur zeigt auf mich. Es hilft, wenn das im Hals steckende Kichern darüber sich in Lyssys Komik entspannt.
Faszinierend bleibt, wie viel Lyssy über jedes Detail nachgedacht hat. So viel man auch anspricht, er kann unerschöpflich und in ansteckender Lebhaftigkeit berichten, weshalb er eine Nuance so und nicht anders gesetzt hat. Sich solche Feinheiten vor Augen zu führen – da es sie endlich wieder mal gibt auf der Leinwand –, lohnt sich. Welcher Ton empfiehlt sich im Trauerfall? Ein delikates Problem. Wie löst es Lyssy, ironisch oder pathetisch? Er vermeidet beides mit einer eigenhändigen Variation am Klavier des zuvor schon eingewobenen Lieds: «Nach em Räge schint Sunne».
Überhaupt ist die Musikauswahl exzellent. Sie zeigt, von welchem Kaliber der fast vergessene «Züri-Swing» gewesen war. Er dient hier nicht der Nostalgie, sondern belebt eine Epoche und deren individuellen Biografien, die Jüngere gern als «abgelebt» abtun. Als kämen die eines Tages nicht auch in den welken Genuss und die bisweilen schon scheintot sind in ihrem sportlich-vulgär-geschäftigen Jetzt – eine Parodie im Film, die vielleicht als einzige etwas gröbere Züge annimmt. Die Schmalztube läge bei einem solchen Thema stets bereit; Lyssy braucht nichts davon.
Überragend ist die Hauptperson, Gertrud Forster, gespielt von Monica Gubser aus Zuchwil SO, heute 86. In Nebenrollen ist sie aufgefallen («Herbstzeitlosen», «Der Bestatter» u. a.), jetzt dürfte sie landesweit bekannt werden – verdientermassen. Wie die Fältchen in Gubsers Mimik bei Grossaufnahme die Regungen ihrer Seele andeuten – das ist grossartig. Diese Falten bewahren nichts weniger als das Leben.
Die letzte Pointe, ab Donnerstag in den Kinos.