Mit Bach in Andermatt: Farbig, frisch und neuartig

Die Accademia Barocca Lucernensis überzeugte beim Gotthard-Klassik-Festival in Andermatt mit transparenten und lebendigen Bach-Interpretationen.

Gerda Neunhoeffer
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Chor und Barockorchester der Accademia Barocca Lucernensis spielten Bach am Samstagabend mit viel Dynamik.

Chor und Barockorchester der Accademia Barocca Lucernensis spielten Bach am Samstagabend mit viel Dynamik.

Bild: Peter Fischli /Gotthard Klassik-Festival (Andermatt, 3. Oktober 2020)

«Dies war ein schwieriger Tag», sagt der Intendant des Gotthard-Klassik-Festivals Jörg Conrad in seiner Begrüssung zum sechsten Konzert am Samstagabend. Die Kirche St.Peter und Paul in Andermatt ist nicht nur wegen Corona sehr locker besetzt – gesperrte Strassen, Umwege und Verspätungen haben wohl manche Musikliebhaber dazu bewogen, zu Hause zu bleiben. Aber «die Musiker sind angekommen», freut sich Conrad.

Die Mitglieder der Accademia Barocca Lucernensis kommen aus verschiedenen Regionen der Schweiz zusammen; glücklicherweise hat Kulturmanager und Sänger Martin Caduff für das Ensemble einen Bus organisiert. Von Basel über Luzern und mit einiger Verspätung (Überschwemmung auf der Autobahn) sind nun alle rechtzeitig zu einer Anspielprobe da. Das Ensemble hat sich seit seiner Gründung 2014 intensiv mit der überlieferten Aufführungspraxis beschäftigt. Die Musiker spielen auf historischen Instrumenten in alter Stimmung. Dirigent Javier Ulises Illán Ortiz ist auch Musikforscher und dringt tief in die Welt der Musik ein, die er gestaltet. In diesem Konzert ist es Johann Sebastian Bach: farbig, frisch, neuartig, emotionsgeladen. Kein Wunder, dass das Ensemble für den internationalen Klassik-Preis Opus Klassik 2019 nominiert worden ist.

Majestätische Wirkung im Kirchenraum

Festlich schwingen sich die Klänge der 3. Orchestersuite in den hohen Kirchenraum. Weiche Trompetentöne über scharf punktierten Streichern scheinen das Gold in den Figuren um den Altar zum Leuchten zu bringen. Paukenwirbel unterstützen die majestätische Wirkung. Dann schweben virtuose Geigen-Girlanden präzise wie aus einem Instrument, bis sich die prachtvollen Anfangsklänge wieder ausbreiten.

Aber die grosse Überraschung ist der darauffolgende Satz. Die allseits bekannte, berühmte Air, in vielen Bearbeitungen durch alle Radiokanäle oder gar als Handyklingelton zu hören, wird in der Interpretation der Accademia zu einem musikalischen Höhepunkt. Mit innerer Ruhe, mit sowohl asketischen wie erstaunlich sinnlichen Klängen, ist es ein stilles Schreiten. Ein himmlisch erdfernes Klangereignis, bei dem man spürt: Ja, so muss es sein! Wie in einer besonders gut ausgedachten Regie erklingen nach dem leisen Ende der Air die Stunden-Glockenschläge vom Kirchturm, die der Dirigent ruhig abwartet. Spritzig wird die Gavotte gespielt und holt einen wieder ganz auf die Erde zurück. Nicht weniger lebendig, mit feinen Verzierungen in den Trompeten, mit Temperament und musikantischer Frische werden die weiteren Sätze ausgespielt. Am Schluss warten die Zuhörer: Ist das wirklich schon zu Ende? Aber dann brandet der Beifall auf.

Aufstellung unter Schutzbedingungen

Das Magnificat D-Dur BWV 234 ist Bachs Vertonung des Mariengesangs. Die Sängerinnen und Sänger stellen sich hinter dem Orchester auf, wegen der Corona-Auflagen weit auseinander und leider nicht erhöht. Das ist in der Akustik der halligen Kirche etwas problematisch. Die Textverständlichkeit in den schnellen Sätzen ist nicht ganz so präzise. Vor allem die Endkonsonanten sind im Tutti nicht gut zu hören. Dafür sind die Intonation, die Klangfülle und die Dynamik durchweg hervorragend.

Viele bekannte Interpreten lassen die schwierigen, virtuosen Chorsätze teilweise solistisch singen – das ist hier nicht notwendig. Mit wendigen Stimmen und gut aufeinander eingesungen bleiben auch die schnellsten Läufe durchsichtig. Trotz des Nachhalls. Mit schlanken Begleitfiguren untermalen die Streicher den fein geführten Sopran von Kathrin Hottinger in «Et exsultavit», Oboe d’Amore und Sara Jäggis Sopran vereinen sich samten in der Arie «Quia respexit».

Vielstimmig ist das chorische «Omnes generationes», in dem sich die Stimmen in immer neuen Figurationen umschlingen. Klar definiert der Dirigent das Klanggeschehen, immer wieder mal trägt er dabei seine Maske mit dem Bild und der Unterschrift von Bach auf schwarzem Grund – Corona hat so seine speziellen optischen Auswirkungen. Natürlich tragen auch die Besucher Masken aller Farben. Prachtvoll gestaltet Bassist Ismael Arroniz seine Arie «Quia fecit mihi magna» über dem auf den Punkt genauen Continuo. Spannend und reizvoll ist im Duett «Et misericordia», dass die Bratschen wie eine dritte Singstimme zu hören sind – in kaum einer Aufnahme oder Aufführung ist das bisher so herausgearbeitet worden.

Das Publikum ist begeistert

Wunderbar verbindet sich das im Wechsel mit den weittragenden Stimmen von Countertenor Jan Börner und Tenor Remy Burnens. Die Flöten und Geigen sind nicht im Vordergrund wie üblich. Den Choral «Meine Seele erhebt den Herren» (Magnificat-Text), spielt die Oboistin mit langem Atem weich über den drei Solostimmen im «Suscepit Israel»; die Chorfuge «Sicut locutus est» wird von den Bässen kraftvoll angestimmt. Alle Solisten sind auch Teil des Chores. Und so triumphal wie der Beginn der Orchestersuite endet das Gloria mit Pauken und Trompeten und erfüllt den ganzen Raum mit goldenem Klang. Lange Standing Ovation.

Das Gotthard-Klassik-Festival wird auch in Zukunft im Herbst stattfinden und endete gestern mit ausverkauftem Big Band Konzert. Die Musikvielfalt von Volksmusik über Jazz und Klassik kommt gut an, trotz Corona und Wetterkapriolen.