Passt ein Sinfonieorchester zum urbanen Lebensgefühl? Das Lucerne Festival Academy Orchestra bewies es mit einer Trilogie fulminant.
Das hätte man nach den früh und heftig hochgeschraubten Schlagzeug-, Blechbläser- und Geräuschgewittern im Konzertsaal nicht für möglich gehalten. Der Dirigent Pablo Heras-Casado verstand es, im anarchischen Klangstrom von Edgar Varèses «Amériques» das Geschehen immer wieder auf Einsprengsel zu fokussieren, die durch diese Ikone der Moderne geistern. So hörte man die stampfenden Schubkräfte und chromatisch flatternde Blechbläserstaccati aus Strawinskis «Sacre du Printemps» nicht nur als Ausdruck der gigantischen Maschinerie einer Metropole. Sie vermittelten vielmehr ein geradezu jazzig-lässiges Lebensgefühl.
Und dann kam zum Schluss nochmals diese unerwartete Steigerung: Derart ohrenbetäubend hat man diese Sinfonie einer Grossstadt noch kaum je gehört. Und das, obwohl sie in Luzern eine Tradition hat, seit Jonathan Nott sie einst mit dem verstärkten Luzerner Sinfonieorchester aufgeführt hatte. Das Publikum im Saal brach am Sonntag überrumpelt, elektrisiert und baff vor Erstaunen in frenetischen Jubel aus.
Doch dieses letzte Konzert des Lucerne Festival Academy Orchestra war nur der fulminante Abschluss einer Trilogie an diesem Wochenende. Diese führte demonstrativ vor, dass die Academy nicht nur ein Campus ist, an dem Studenten aus aller Welt zeitgenössische Musik einstudieren. Sie ist vielmehr ein Ort geworden, an dem auch über die Rolle nachgedacht wird, die ein so traditioneller Klangkörper wie eben ein Sinfonieorchester in Zukunft spielen kann.
Das Konzert stand dabei für die Tradition der Moderne, deren Bedeutung der neue Academy-Leiter, der Komponist Wolfgang Rihm, im Gespräch betont hat. An deren Verwurzelung in Spätromantik und Impressionismus verwiesen klanglich geschärft Bartóks «Wunderbarer Mandarin» und zauberisch aufgefächert Karol Szymanowskys Violinkonzert Nr. 2. Wie hier das Orchester mit schillernder Farbigkeit die unendlich dahingleitenden Melodielinien der Sologeige (verschwenderisch süss und expressiv: Isabelle Faust) in gleissende Höhen emportrug, war ein Höhepunkt für sich, der auch das spieltechnische Niveau des Orchesters eindrücklich vorführte.
Aber moderne Urbanität als Thema orchestraler Projekte erwies sich im Rückblick als eigentliches Thema dieser Academy-Schlusstrilogie. Diese hatte bereits am Samstag mit Tod Machovers «Sinfonie für Luzern» ein Stadtporträt geliefert. Und es lag nicht am Orchester, dass dieses neben der Radikalität von Varèses «Amériques» und trotz des Einbezugs der Elektronik einem erst recht als harmlose Kleinstadtidylle vorkommen musste. Lediglich und ausgerechnet eine Fasnachtsguugge hatte da jene Unbändigkeit mit eingebracht.
Wie man auch heute noch mit einem Orchester überzeugend Neuland betreten kann, wofür einst der Titel «Amériques» stand, zeigte das dritte Grossprojekt der Academy im Late Night vom Samstag. Die Idee, dem Jazz-Vokalisten Andreas Schaerer und seiner Band Hildegard lernt fliegen ein ganzes Sinfonieorchester zur Verfügung zu stellen, kam auch Schaerer selber gewagt vor, wie er in gut gelaunten Worten dem Publikum gestand.
Streichersaucen zum druckvollen, mit Ethno-Melancholie und -Ausgelassenheit durchsetzten Bläsersound der Hildegard-Truppe, die die Bläser des Orchesters überflüssig machen würden? Solche Bedenken verflogen nach den ersten Stücken. Schaerer verwendete auch als dämonisch agierender Dirigent die ganze Skala, die das bot. Mal reduzierte er das Arsenal auf Gruppen und schuf so Raum für Netzwerke. Er nutzte aber auch den ganzen Apparat für blitzartige Bedrängnisse. Das Verrückte war, wie sich hier orchestrale Komplexität mit Grooves verband, wie sie zeitgenössische Musik in der Regel nicht kennt. Und wie sich da hinein das poetisch-absurde Lauttheater von Schaerers fabelhafter Stimme, vom monströsen Röchelbass bis ins samtig wimmernde Falsett, integrierte.
Moderne Urbanität mit klassischem Orchestersound: Beispielhaft für diese Verbindung war, wie Schaerer die Moderationen zum Bestandteil der Performance machte. Nicht nur holte er das Publikum in seinen Anekdoten emotional auf Berndeutsch ab und wechselte, wenn er sich ans Orchester wandte, nahtlos ins Englische. Dem Sprachzwiespalt, unter dem die Sinfonie für Luzern litt, gewann er gar eine kreative Pointe ab.
Nicht zuletzt von diesem kommunikativen Talent, das auch die Musik selber ausstrahlte, könnten klassische Musiker eine Menge lernen. Auch dafür könnte die Academy vermehrt ein Ort werden. Wer weiss, vielleicht auch mit Studenten der Musikhochschule Luzern, wo Rihm jetzt ein Jahr lang als Gastdozent wirkte und wo er «vorzügliche Studenten» kennen gelernt hat.