FILMFESTIVAL CANNES: Ken Loachs zweiter Streich

Wer hätte das gedacht? Der Brite Ken Loach holt für das Sozialdrama «I, Daniel Blake» seine zweite Goldene Palme. Das ist künstlerisch mindestens fragwürdig.

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Der britische Starregisseur Ken Loach (79) und seine Freude über die Goldene Palme, die er gestern Abend gewonnen hat. (Bild: Keystone)

Der britische Starregisseur Ken Loach (79) und seine Freude über die Goldene Palme, die er gestern Abend gewonnen hat. (Bild: Keystone)

Hans Jürg Zinsli

Die Dankesreden sind fast so lange wie die Wettbewerbsfilme. Letztere dauerten in Cannes dieses Jahr durchschnittlich 2 Stunden und 11 Minuten. Ein Rekord punkto Sitzleder. Überraschend ist aber nicht nur die grassierende Überlänge im diesjährigen Festival, sondern auch die Preisvergabe. Dass man Ken Loach nicht nur einmal («The Wind That Shakes The Barley», 2006), sondern sogar zweimal die Palme für einen bestenfalls durchschnittlichen Film verleihen würde, darauf hätte wohl niemand gewettet.

Kampf gegen Bürokratie

«I, Daniel Blake» handelt von einem 60-jährigen arbeitslosen Handwerker, der mit Hilfe einer alleinerziehenden Mutter einen kafkaesken Kampf gegen die staatliche Unterstützungsbürokratie führt. Man könnte auch sagen: Es ist ein sozialkritischer Film, den Ken Loach schon gefühlte 800-mal gedreht hat und vermutlich fast jedes Mal besser als den nun prämierten.

Aber so ist Cannes. Da werden ältere Herren für ihr Lebenswerk ausgezeichnet, wobei der 79-jährige Ken Loach eine neue Senioren-Höchstmarke setzt. Zuletzt waren die Preisträger zwischen 50 und 70 Jahre alt. Derweil kommt die Missachtung der viel gewitzteren Sozialkritik in «Toni Erdmann» (Regie: Maren Ade, 39) über einen Vater, der seine businessabsorbierte Tochter mit Tricks zu retten versucht, einem Affront gleich. Zwar erhielt der Film, der doch zu Recht als Topfavorit gegolten hatte, den Fipres­ci-Preis der Kritikervereinigung, aber keinen einzigen Preis der Jury. Und die letzte und einzige Frau, die in Cannes je gewann, heisst Jane Campion. Das war für «The Piano» anno 1993.

Und noch ein Fragezeichen

Man darf sich also wundern. In einem Jahr, wo maximal viele Stars und Autorenfilmer in Cannes waren, bleibt ein schaler Nachgeschmack. Wenn ein Regisseur wie Xavier Dolan (27) für sein hölzernes Drama «Juste la fin du Monde» über eine zerstrittene Familie den zweitwichtigsten Preis davonträgt, muss man ein weiteres Fragezeichen setzen. Immerhin gewann mit «American Honey» von Andrea Arnold einer der besten Filme des Wettbewerbs eine Auszeichnung, allerdings den etwas weniger prestigeträchtigen zweiten Preis der Jury.

«Autorenkino nur noch Nische»

Klar, eine Jury ist frei. Aber das Signal, das 2016 unter Jurypräsident George Miller («Mad Max») gesetzt wird, ist schwach. Wenn etwas nachhallt, dann dies: «Das Autorenkino ist zu einer Nische geworden», sagt der verdiente Regie-Preisträger Cristian Mungiu, der die Auszeichnung allerdings mit Olivier Assayas teilen muss. Der rumänische Regisseur Mungiu hatte 2007 als einer der Jüngsten in Cannes die Goldene Palme gewonnen. Er war 39. Heute sagt er: «Als Autorenfilmer müssen wir aufpassen, was wir tun.»

Ken Loach seinerseits kritisierte in seiner Dankesrede scharf die «neoliberalen Ideen», die «uns der Katastrophe nahegebracht haben». «Diese Praktiken haben Millionen Menschen in die Armut getrieben, von Griechenland bis Portugal, während sich eine kleine Minderheit auf beschämende Art bereichert hat.»

Zwei Preise in den Iran

Zwei weitere Preise gingen an das Gesellschaftsdrama «Forushande (The Salesman)» des Iraners Asghar Farhadi: für das beste Drehbuch und den Hauptdarsteller Shahab Hosseini. «Dieser Preis gehört meinem Volk, und ich gebe ihm diesen von ganzem Herzen», sagte Hosseini in seiner Dankesrede. Zur besten Darstellerin wurde die Philippinerin Jaclyn Jose gekürt. Die 52-Jährige erhielt die begehrte Auszeichnung für ihre Leistung im Antikorruptionsdrama «Ma’ Rosa» von Brillante Mendoza.