Die Bilder des Fotografen Kevin McElvaney zeigen Grausames: Flucht, Vertreibung, die Folgen von Gewalt und Ausbeutung. Ästhetisch sind die Bilder trotzdem. Dürfen sie das sein?
Interview: Isabelle Daniel
Kevin McElvaney, für Ihr Foto-Projekt «Refugee Cameras» haben Sie insgesamt 15 Einwegkameras an Flüchtlinge in der Türkei und in Griechenland verteilt und sie gebeten, damit auf ihrer Reise nach Europa zu fotografieren. Welche Motive haben die Flüchtlinge, denen Sie die Kameras gegeben haben, besonders oft fotografiert?
Das lässt sich nicht pauschalisieren. Das Projekt soll ja auch zeigen, dass es sich bei diesen Menschen nicht nur um Flüchtlinge, sondern vor allem um Individuen handelt. Da ist zum Beispiel Dyab, der Vater, der stets sein Kind fotografiert, aber nur in glücklichen Momenten. Oder Firas, der in einer Gruppe gereist ist und eines Nachts gewartet hat, bis alle anderen vor Erschöpfung eingeschlafen sind, um dieses Motiv einfangen zu können. Oder Zakaria, der sämtliche Bilder auf dem Schlauchboot gemacht hat, weil für ihn die Überfahrt das Wichtigste war.
Wie unterscheiden sich die Aufnahmen der Flüchtlinge von den Bildern professioneller Fotografen, die zum Thema Flucht arbeiten?
Ein professioneller Fotograf drückt ja immer dann auf den Auslöser, wenn etwas passiert. Da ist natürlich ein Familienvater, der gerade aus der Türkei nach Griechenland gekommen ist, anders gepolt. Es gab aber viele Bilder, die – unabhängig von Bildqualität und Technik – fotografisch sehr interessant und aussagestark waren. Da gibt es zum Beispiel das Bild von einer Gruppe Flüchtlinge in einem Zug, der bei offener Tür losfährt. Später hat der Fotograf mir erzählt, dass er nochmals aus dem bereits anfahrenden Zug herausgesprungen ist, als er gemerkt hat, dass die Tür nicht zugeht. Beim Gedanken daran, dass er das fotografisch festhalten kann, hat er gehofft, dass andere Menschen diese Zustände würden sehen können. Die Kamera hat also offenbar auch etwas mit den Leuten gemacht.
Sie haben in der Projektbeschreibung geschrieben, dass bislang vor allem Profi-Fotografen die Perspektive auf die Flüchtlingskrise bestimmt hätten – und Sie Geflüchteten selbst Gelegenheit geben wollten, ihre Flucht zu dokumentieren. Im Nachhinein betrachtet: Hat sich Ihr eigener Blickwinkel beim Fotografieren von Fluchtsituationen verändert?
Nein, eigentlich nicht. Ich glaube schon, dass es Situationen gibt, in denen man einen professionellen Fotografen braucht, der das Zeitgeschehen dokumentiert, in sehr hektischen Situationen zum Beispiel. In den Momenten, in denen ich beispielsweise auf der «MS Aquarius», die ich während des Jahreswechsels 2016/17 auf dem Mittelmeer begleitete, auf den Auslöser drücken konnte, wären die Schiffbrüchigen selbst dazu gar nicht in der Lage gewesen.
Viele Menschen haben das Gefühl, dass sich die Bilder der Flüchtlingskrise wiederholen, dass sich dieses Thema im Grunde in wenigen Bildern zusammenfassen lässt: dem Schlauchboot auf dem Mittelmeer, Schwimmwesten, dazwischen vielleicht noch das Bild des toten Aylan an einem türkischen Strand.
Es fehlt auf jeden Fall an Differenzierung. Bei meinen Ausstellungen habe ich zum Beispiel gemerkt, dass viele Besucher auf den Bildern den Fluchtweg von der Türkei nach Griechenland mit jenem von Libyen nach Italien verwechselt haben. Dabei gibt es offensichtliche Unterschiede: Im letzteren Fall sitzen typischerweise viel mehr afrikanische Flüchtlinge in den Booten, die Boote sind viel grösser, ausserdem sieht man kein Land im Hintergrund. Aber diesen Unterschied sehen viele Betrachter nicht – und wissen demzufolge auch nicht, mit was für unterschiedlichen Reiseverläufen wir es zu tun haben: Auf der einen Fluchtroute sind die Menschen vier Stunden lang unterwegs, auf der anderen vier Tage.
Besteht die Gefahr einer Übersättigung oder gar Abstumpfung durch solche Bilder?
Ich habe diese Erfahrung selbst vor Ort in Moria gemacht. Vor den Toren des Camps habe ich mich mit einem Flüchtling aus dem Kongo unterhalten, der mich gefragt hat, warum ich nicht auch im Camp fotografiere. In einer ersten Reaktion habe ich gesagt: «Ich glaube nicht, dass das etwas bringt.» Ich habe dann gleich gemerkt, wie abgebrüht und dumm sich das anhörte, denn die Situation in Moria hat sich in den letzten zwei Jahren extrem verschlechtert.
Sie haben dann eine Bilderstrecke gemacht, obwohl das Fotografieren in Moria verboten ist.
Dazu habe ich mich spontan vor Ort entschieden. Ich hatte mich mittlerweile daran gewöhnt, an einen furchtbaren Ort zu denken, wenn ich den Namen «Moria» höre. Und ich glaube, das geht vielen Menschen so. Ich denke, wir sollten einen Schritt zurückgehen und uns klarmachen, dass dieser Ort bei uns in Europa ist, wo wir uns eine Charta, der gemäss die Menschen nicht nur ein Recht auf Unversehrtheit haben, sondern auch auf Würde, selbst auferlegt haben. Dass wir alle eine Brille aufhaben, ist mir in Moria dann später noch einmal aufgefallen: Als ich abends den Mitarbeitern von Hilfsorganisationen meine Bilder gezeigt habe, reagierten selbst die geschockt auf die abgebildeten Szenen – obwohl sie ja dort arbeiten und den ganzen Tag im Flüchtlingslager verbringen.
Obwohl Ihre Bilder, wie Sie selbst sagen, eher alltägliche Szenen abbilden, Momentaufnahmen sind?
Ja, aber ich denke, das kennt jeder von uns: Wenn wir regelmässig in der Wohnung unseres Freundes einen grossen Stapel voller schmutziger Wäsche sehen, gewöhnen wir uns daran. Ich habe zum Beispiel in Moria eine Gruppe von Flüchtlingen gesehen, die vor ihrer kleinen, improvisierten Moschee in Richtung Mekka beteten. Genau in dieser Richtung stand allerdings ein riesiger Müllberg. Für mich als Aussenstehender sah das so aus, als würde die Gruppe einen Müllhaufen anbeten. Das zeigt, wie sehr der Mensch in der Lage ist, sich eigentlich unerträglichen Situationen anzupassen.
Entlang der Flüchtlingsrouten sind Bilder entstanden, die um die Welt gingen. Ein Foto, das jeder kennt, gibt es hingegen aus den europäischen Flüchtlingscamps nicht. Liegt das daran, dass sich Fotografen wegen des Verbots in den Camps scheuen, dort zu fotografieren?
Nein, es geht ja trotzdem. Aber es bleibt bei Momentaufnahmen, während man bei längeren Projekten ein Konzept aufbauen und die Protagonisten einbeziehen kann. Das ist bei Nachrichtenfotografen natürlich anders. Da muss alles viel schneller gehen, am Ende entstehen eher Snapshots. Die Zeit, einen Moment richtig aufzubauen, wie ich das in der Regel habe, haben solche Fotografen nicht.
Das könnte man auch als Inszenierung bezeichnen.
Eine Standardfrage ist: Ist es legitim, wenn ein Kriegsbild ästhetisch ist? Ich glaube, dass der Mensch sich im wahrsten Sinne des Wortes verschliesst, wenn er etwas Schreckliches sieht. Wir schützen uns und schauen weg. Wenn wir aber etwas Schönes sehen, schauen wir hin und öffnen uns. Dann lassen wir auch zu, dass uns das Thema berührt, auch wenn es sich dabei um etwas Grausames wie Krieg handelt. Beim Fotografieren gebe ich deshalb Reinhold Messner dieselbe Aufmerksamkeit wie einem Flüchtling. Das heisst, dass ich mit meinen Protagonisten erst einmal warm werde und sage, aus welcher Perspektive er oder sie besser aussieht. Man kann das Inszenierung nennen. Aber mir ist wichtig, dass der Mensch auf dem Foto sich später selbst gefällt.