Seit 60 Jahren mischt sich der deutsche Schriftsteller Martin Walser als politischer Kommentator ein. Heute wird er 90 Jahre alt. Sein Denken kreist im Kern seit je um die Schuldfrage im Holocaust und um die deutsche Einheit.
Hansruedi Kugler
Dieses eine Missverständnis hat ihm jahrelang die Ruhe geraubt. Eine ganze Nation war monatelang irritiert. In seiner Dankesrede für den Friedenspreis 1998 sagte Martin Walser, Auschwitz eigne sich nicht als Drohroutine, Moralkeule, Pflichtübung. Auschwitz werde leider instrumentalisiert. Er schaue öfters weg, wehre sich «gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande». Harte Vorwürfe auf heikelstem Terrain.
Das geplante Holocaust-Mahnmal mitten in Berlin bezeichnete er als «fussballfeldgrossen Albtraum», als «Monumentalisierung der Schande». Später lobte er zwar dieses Mahnmal. Aber ein medialer Aufschrei ging durch Deutschland. Mit Ignatz Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrats der deutschen Juden, kam es zum erbitterten Zerwürfnis.
Zu spät zeigte Walser Reue. Als er sich Jahre später öffentlich für seine Worte entschuldigte, war Bubis bereits verstorben. War Walser zum unbelehrbaren Nationalisten, zum Revanchisten geworden? Er, der in den 1960er-Jahren gegen den Vietnamkrieg protestiert, sich für die Wahl und die Entspannungspolitik Willy Brandts eingesetzt und für gewerkschaftlichen Widerstand gegen Pressezaren wie Berlusconi oder Axel Springer aufgefordert hatte? Walser war deshalb von der bürgerlichen Presse als Kommunist beschimpft worden. Sicher, seine Wortwahl 1998 war unangemessen scharfzüngig, in seinem Vorwurf der Instrumentalisierung nannte er keine Namen, es blieb deshalb raunende Polemik.
Walser hatte durch seine tölpelhafte Ungenauigkeit das Missverständnis befördert. Walser wurde auch vorgeworfen, dass er fremdenfeindliche Anschläge in Ostdeutschland als Protestradau und nicht als faschistische Taten bezeichnete. Aus Walsers Sicht wieder ein Missverständnis. Nur: Kaum ein anderer Schriftsteller hat in den letzten 60 Jahren so viele kluge und grundlegende Dinge zu Deutschland geschrieben wie Martin Walser.
Es schien sogar vergessen, dass er lebenslang über Auschwitz nachgedacht hatte, die Auschwitz-Prozesse 1963–1965 in Frankfurt als Beobachter beschrieben hatte, dass er tiefer als die meisten über die Schuldfrage und die politischen Lehren aus dieser Katastrophe geschrieben hatte. Und dies nicht nur, weil er gegen Ende des Zweiten Weltkriegs als Soldat in die Wehrmacht eingezogen worden war. Das Verurteilen der Folterknechte sei zwar juristisch nachvollziehbar, schrieb er schon 1965. Sie lenke aber zugleich ab: «In Auschwitz arbeitete unsere ganze Gesellschaft mit. Aber das ist eine Vorstellung, die wir nicht so gut ertragen», hielt er fest. Vor das Gericht hätten deshalb auch Konzernbosse und Richter gehört.
Walser meinte aber auch sich selbst: «Man ist Verbrecher, wenn die Gesellschaft zu der man gehört, Verbrechen begeht. Die Frage, wie unter uns Wohlerzogenen plötzlich ein paar zu so etwas im Stande waren, können wir nicht wegdelegieren.» Damit hatte er mitten in den Wirtschaftswunderjahren den Finger in eine Wunde gelegt. Wenn man die Konstellationen, die diesen Wahnsinn ermöglichten und erst herbeiführten, nicht radikal aufkläre, drohten neue Monstrositäten: «Am Ende kommen wir wieder auf Ideen. Und das ist gern der Anfang des Schrecklichen.» Walser sah sich bald bestätigt: Als die Berichte vom Massenmord und von grauenhaften Folterungen bekannt wurden, die US-Soldaten im Vietnam-Krieg begangen hatten. Die Entmenschlichung des Gegners, das Feindbild des Kommunismus als das absolut Böse – in der gegenseitigen Dämonisierung im Kalten Krieg sah Walser den ideologischen Boden neuer Grausamkeiten.
Die USA hätten die legitimen Befreiungskämpfe in der Dritten Welt in stupider Undifferenziertheit lediglich als von Moskau oder Peking gesteuert gesehen. Zornig verbat sich Walser, dass der deutsche Bundespräsident Lübke im Namen des deutschen Volkes dem amerikanischen Präsidenten den Sieg in Vietnam wünschte. In dieser Hinsicht war Walser hellsichtig, gerade weil sich diese Entmenschlichung dreissig Jahre später in den US-Foltergefängnissen im Irak wiederholte.
Warum beklagte er 1998 aber Auschwitz als «Moralkeule»? Walser hatte zu wenig bedacht, dass die deutsche Wiedervereinigung in manchen Nachbarländern mit Ängsten verbunden war. Geärgert hatte er sich hingegen über viele seiner deutschen Kollegen, Intellektuelle wie Schriftsteller, welche die deutsche Teilung als im Grunde berechtigte Strafe für Auschwitz guthiessen. Das fand er grundfalsch. Die Teilung sei das Resultat des Kalten Krieges, entgegnete er ihnen. Es gebe keine Rückfallgefahr. Zwar hielt er es in den 1960er-Jahren für nötig, der DDR eine eigene Entwicklung zuzugestehen. Aber 1974 forderte er Erich Honecker mit «sozialistischem Gruss» zum Rücktritt auf, weil dieser zugelassen hatte, dass ein DDR-Spion Willy Brandt ausspionierte. Die Frage der Einheit wollte Martin Walser schon seit den 1970er-Jahren offenlassen. Auschwitz solle dies nicht verunmöglichen. Die sanfte Revolution der DDR-Bürger 1989 habe der Welt gezeigt, dass Deutschland ein friedliches Land geworden sei, schrieb Walser im November 1989. Und 2015 hielt er zufrieden fest: «Wir können für unsere Nachbarn schlimmstenfalls lästig werden, aber nicht mehr gefährlich.» Die Geschichte hat Martin Walser vorläufig recht gegeben.