Die erste Musikwoche sollte den Tourismus ankurbeln. Aber die Mitwirkung Arturo Toscaninis gab ihr 1938 einen unerwartet politischen Akzent.
Gemeinhin gilt das am strahlend schönen 25. August 1938 von Arturo Toscanini geleitete «Concert de Gala» vor dem Wagner-Museum in Tribschen als Geburtsstunde des Lucerne Festival, wie es der Gedenkstein im Park der ehemaligen Wagner-Villa festhält. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn die eigentlichen Ursprünge liegen woanders.
Toscanini war nur der bekannteste Dirigent mit der grössten Ausstrahlung, der im Gründungsjahr auftrat, ein Mythos, und sein Klangkörper ein Eliteorchester, das für ihn zusammengestellt wurde mit Adolf Busch als Konzertmeister. Das Medienecho mit Radio-ausstrahlungen bis in die USA und das prominent mit ausländischen Gästen zusammengesetzte Publikum taten ein Übriges, den Namen Luzerns mit einem Schlag in der Musikwelt zu verbreiten.
Dass ein Star besondere Akzente setzt, sollte auch bei den später in Lucerne Festival umgetauften Festwochen immer wieder ein Merkmal sein, denkt man an Ikonen wie Furtwängler, Karajan, Klemperer, Böhm, Kubelik, Bernstein, Celibidache, Rattle, Barenboim, Maazel, Abbado oder unter den Solisten an den Pianisten Anton Rubinstein und den Geiger Isaac Stern. Beide weigerten sich aus Solidarität mit dem jüdischen Volk beharrlich, je in Deutschland aufzutreten, und wurden in Luzern Stammgäste. Stern, der zwischen 1948 und 1988 nicht weniger als zehn Mal auftrat, steht stellvertretend für jene Künstler, die von Luzern aus ihre Weltkarriere starteten.
Die eigentliche Initiative zur Gründung ging aber vom Westschweizer Dirigenten Ernest Ansermet aus, der für sein Orchestre de la Suisse Romande eine Betätigung in den Sommermonaten suchte. Bereits am 18. Juli 1938 dirigierte er im Theatersaal (Casineum) des Kursaals Mitglieder seines Genfer Klangkörpers und des Kursaal-Orchesters. Dieses war als AML-Orchester der Vorläufer des Luzerner Sinfonieorchesters, kannte gleichfalls keine Ganzjahresverträge und überbrückte als Salonorchester die Sommerpause.
Zwar erwies sich Luzern und seine landschaftlich einmalige Umgebung als geeignet für einen Festspielort. Aber das musikalische Leben bewegte sich trotz tüchtigen Laienchören, dem Stadttheater und dem mit diesem eng verbundenen kleinen Sinfonieorchester noch in relativ bescheidenem Rahmen.
In diesen krisengeschüttelten 30er-Jahren im Gefolge der grossen Wirtschaftskrise waren ferner handfeste materielle Gründe massgebend. Der für Luzern wichtige Fremdenverkehr lag darnieder. Deshalb besprachen schon 1937 die Herren der Verkehrskommission (heute Tourismus Luzern) und des damaligen Hoteliervereins die Möglichkeit, im Sommer 1938 eine Musikwoche durchzuführen. Mit einer grossen musikalischen Veranstaltung, an der international bekannte Dirigenten mitwirken würden, hofften sie, Luzern als Fremdenplatz wieder ins Gespräch zu bringen. Ansermets Pläne stiessen deshalb bei ihnen auf offene Ohren, zumal beim damaligen Stadtpräsidenten und Hotelier Jakob Zimmerli, der sich in der Folge besonders gut mit dem ungefähr gleichaltrigen Toscanini verstand.
Dabei kam den Initianten die Gunst der Stunde entgegen, und sie wussten sie geschickt zu nutzen. Der nationalsozialistische Rassenwahn und der immer bedrohlichere grossdeutsche Eroberungsdrang bewog eine ganze Reihe von hervorragenden Musikern, dem Ruf Luzerns zu folgen. Neben Toscanini waren dies die Hitler-Gegner Fritz und Adolf Busch und der jüdischstämmige Bruno Walter. Dazu kam der holländische Mahler-Förderer Willem Mengelberg, dessen Laufbahn später wegen dessen Nazifreundlichkeit nach dem Kriege ein abruptes Ende fand. Sie dirigierten zwischen 18. August und 1.September im Gründungsjahr im Kunsthaus die weiteren drei Sinfoniekonzerte mit Werken aus der Klassik und der Romantik, wie dies besonders in den Anfangsjahren typisch war. Ein weiteres Extrakonzert dirigierte mit «seinem» Orchester auch Toscanini im Kunsthaus.
Trotz der unsicheren politischen Lage fanden die Festwochen 1939 statt, wurden gar um zehn Tage verlängert, wobei Toscanini nicht weniger als fünf Konzerte dirigierte, darunter zweimal das Verdi-Requiem. Für dieses wurde eigens der Luzerner Festwochenchor geschaffen, der bis vor einigen Jahren zum regelmässig wiederkehrenden Erscheinungsbild der Festwochen gehörte. Nach Kriegsausbruch musste Luzern kapitulieren. 1940 fielen die Festwochen aus.
1941 und 1942 holte man aus dem Mussolini-Italien das Orchester der Mailänder Scala, sodass sich das Festival, wie später die Einladungen an Furtwängler und Karajan zeigten, keineswegs als antifaschistisches Bollwerk verstand. Das Engagement des Scala-Orchesters löste denn auch grosse Kritik aus und führte zur Schaffung eines aus den besten Schweizer Musikern gebildeten Festspielorchesters. Dieses bildete ab 1943 während eines halben Jahrhunderts ein markantes Rückgrat des Lucerne Festival.
Ein weiterer Meilenstein trat 1942 mit der Gründung des Konservatoriums hinzu, wo in der Folge Meisterkurse stattfanden – angeregt von Walter Strebi, der als Präsident der Allgemeinen Musikgesellschaft Luzern und Mitglied des Festwochen-Organisationskomitees eine zentrale Rolle spielte. Finanziell kamen die Festwochen dank Zuwendungen des Zürcher Industriellen Emil Bührle über die Runden, nach dessen Tod seine Tochter Hortense Anda-Bührle, Ehefrau des berühmten Pianisten, an seine Stelle trat.
Auch wenn einige dieser Luzerner Gründungen nicht mehr existieren, wirken viele doch bis heute nach. So führt die Lucerne Festival Academy die Idee der Meisterkurse weiter. Und das Toscanini-Orchester und das Schweizerische Festspielorchester erhielten eine Fortsetzung im Lucerne Festival Orchestra von Claudio Abbado.
Hinweis
Quellen: Erich Singer: «Von den Festwochen zum Lucerne Festival» in «Kreative Provinz. Musik in der Zentralschweiz», Pro Libro Verlag Luzern, 2010, Festschriften IMF 1973 und 1988; «Die Musikfestwochen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs» («Neue Luzerner Zeitung», 13. August 1997).