Hellsichtiger Moralist

Bruno Scheible
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Zu seinem 100. Geburtstag habe ich die «humane Kamera» wiederentdeckt. Eine Schrift zur Fotoweltausstellung 1964, in welcher Heinrich Böll hellsichtig vor dem Missbrauch der Bilder für Überwachungszwecke oder Paparazzi-Voyeurismus warnte. «Wo die Ka­mera zudringlich, das Objektiv zum Instrument des Photographen wird, der darauf aus ist, den Menschen zu er­tappen, zu denunzieren, zu ent­larven, überschreitet die Photographie ihre ästhetische und gleichzeitig moralische Grenze.» Er konnte nicht ahnen, wie sehr wir uns heute im Zeitalter des Internets und der Selfies diese Verletzungen durch unsere Ich-Bezogenheit selbst zufügen. Doch er warnte: «Wenn technisch perfektes Photographieren in jedermanns Hand gegeben ist, ist ­Orwells Grosser Bruder fast allgegenwärtig.»

Wer war Böll? Für mich ein Mann des Auftritts und der Gesten. Er mischte sich ein, rieb sich an der bundesrepublikanischen deutschen Realität, war präsent im wehenden Trenchcoat. Die buschigen Brauen, die tiefen ­Furchen in den Wangen und im Mundwinkel die Zigarette: Wie lange hat man dieses Bild nicht mehr gesehen? Ich erinnere mich: der Mann mit der Baskenmütze, der gute Deutsche, der unbeirrte Demonstrant, kämpfend gegen die «Bild»-Zeitung, gegen das Wettrüsten und für Willy Brandt.

Zur Verleihung des Literaturnobelpreises 1972 in Stockholm trug er einen geliehenen Frack. Das imponierte dem damals 17-Jährigen, ebenso gefiel die Kritik des Autors an den «Pfaffen», den «scheinheiligen Verwaltern des Glaubens»: «Und sagte kein einziges Wort» musste keine Pflichtlektüre sein, um gelesen zu werden.

Bruno Scheible