Unser Dossier blickt zum Jubiläumstag zurück auf 75 Jahre Lucerne Festival. In einer Standortbestimmung blicken der Intendant und sein Marketingleiter auf Konkurrenz im Ausland, im Fussball und in die Zukunft.
Klar, wo du herkommst, haben es die Leute einfach. Sie können einfach aufstehen und ‹Tor!› schreien», lacht Michael Haefliger, Intendant von Lucerne Festival, zu seinem Marketingleiter. In klassischen Konzerten ist das anders. Da sitzt jeder für sich im Sessel und klatscht nur zum Schluss in die Hände. Trotzdem hat Helmut Bachmann vor einem Jahr vom Sportmarketing zum Klassikfestival gewechselt. Gemeinsam geben sie eine Standortbestimmung des Festivals in seinem 75. Jubiläumsjahr: der Intendant, der seit 14 Jahren das Festival leitet, und der Marketingchef, der es nach aussen vermittelt.
Die Festivalbilanz sieht hervorragend aus, weshalb Bachmann der Wechsel von der Champions-League-Vermarktung zum Festival vor einem Jahr leicht gefallen ist: «Mit all den Top-Orchestern und -Künstlern ist Lucerne Festival die Champions League in der klassischen Musik!», sagt er enthusiastisch.
Die Zahlen bestätigen es: Mit 110 000 Besuchern an Ostern, im Sommer und am Piano ist Lucerne Festival mit Abstand das grösste und bedeutendste Klassikfestival der Schweiz (vgl. Grafik). International wird es bei den Besucherzahlen nur von Konkurrenten überflügelt, die über andere Voraussetzungen verfügen, etwa dem Schleswig-Holstein Musik Festival, das an 40 Orten stattfindet, oder den stark subventionierten Salzburger (Opern-)Festspielen. Selbst da aber treten Spitzenorchester aus Europa und den USA nicht so gedrängt auf wie in den 28 Sinfoniekonzerten in Luzern. Top-exklusiv ist zudem Claudio Abbados Lucerne Festival Orchestra und die von Pierre Boulez initiierte Lucerne Festival Academy – beide gegründet vor zehn Jahren unter Haefligers Intendanz.
Wie wurde das alles möglich in einer Kleinstadt, die vor 1938 keine grosse Musiktradition hatte? «Dass in den ersten Jahren Arturo Toscanini mitwirkte, war sicher eine entscheidende Starthilfe», meint Haefliger. «Aber schon das hing, über einen Freund Toscaninis in Luzern, mit persönlichen Kontakten zusammen, wie sie für Luzern typisch geblieben sind und ohne die auch die Projekte mit Abbado und Boulez nicht zu Stande gekommen wären.»
Die Verbundenheit der Künstler – und des Publikums – mit Luzern förderte von Anfang an die touristische Attraktivität von Stadt, See und Landschaft. Zusammen mit der familiären Atmosphäre und mit der Konzentration «auf die Musik statt auf gesellschaftlichen Glamour» prägt das den Charakter des Luzerner Festivals, sagt Bachmann.
«Wir haben ja ebenfalls viele prominente Besucher, und am Eröffnungsempfang haben wir für sie auch einen roten Teppich ausgerollt», schmunzelt er. «Aber das Festival als Plattform, auf der sich eine gesellschaftliche ‹Elite› als solche inszenieren kann wie in Salzburg oder Bayreuth, das wäre in der Schweiz undenkbar. Das ist gut so und wird von vielen Künstlern geschätzt.» Daran hat auch das KKL nichts geändert: «Dirigenten, die sich früher vor den Haupteingang chauffieren liessen, benutzen heute den Hintereingang.»
Neben der nach wie vor zentralen Reihe der Sinfonieorchester öffnete sich das Festival in jüngerer Zeit zunehmend zu Neuer Musik und Rahmenveranstaltungen für ein breiteres Publikum. Zudem bescherte der Bau des KKL dem Festival einen Wachstumsschub: die Besucherzahl im Sommer sprang von 50 000 Besuchern im letzten Jahr im Meili-Bau (1996) auf 71 000 im Eröffnungsjahr des KKL-Konzertsaals (1998).
Aber vieles deutet darauf hin, dass der Erfolg sich nicht automatisch in die Zukunft hinein fortsetzt. Das Bildungsbürgertum, das einst fast «ehrfürchtig-devot» (Haefliger) zu den Künstlern aufblickte, schwindet: «Früher gaben viele Eltern ihre Kultur an die Kinder weiter», sagt der Intendant, der das als Sohn des Tenors Ernst Haefliger selbst erlebt hat: «Heute gibt es diesen Generationentransfer immer weniger, weshalb wir immer wieder neu und aktiv ein Publikum gewinnen müssen.»
Wie also bringt man die Faszination klassischer Musik Leuten näher, die damit in ihrem Alltag nicht in Berührung kommen? Bachmanns eigener Einstieg dazu war als Kind die einzige Klassikplatte seiner Eltern – der Gefangenenchor, den er «als Kind rauf und runter spielte». Von daher weiss er, was Studien bestätigen: «Man kann in der Regel nur im Alter zwischen 8 und 24 Jahren eine Beziehung zu einer bestimmten Art von Musik aufbauen.» Deshalb werden «Young»-Projekte am Lucerne Festival auch mit Blick auf die typischen, 40-jährigen Klassikeinsteiger in 30 Jahren ausgebaut: «In unserem Publikum sind Eltern mit nicht erwachsenen Kindern stark untervertreten. Wenn sie später, wenn sie wieder Zeit und Geld haben, zu uns kommen sollen, müssen sie in jungen Jahren mit Klassik in Berührung gekommen sein und eine Grundaffinität dafür entwickelt haben.»
Dann ist da aber noch die Sache mit dem Tor, das man im Fussball bejubeln kann. Liegt ein Problem darin, dass ein Konzertritual, das zum Stillsitzen zwingt, einem Publikum den Zugang erschwert, das an Interaktivität und Neue Medien gewöhnt ist? Dass eine Antwort auf dieses Problem nicht leicht zu finden ist, zeigen die Konzertformate, mit denen Haefliger experimentiert – wie jetzt mit den Buvette-Konzerten auf dem Inseli, der «40min»-Reihe, in der die Musiker ihre Auftritte moderieren, oder der Club-Lounge im Bourbaki.
Bleiben für Bachmann – wie Haefliger FC-Bayern-Fan – solche Versuche nicht hinter dem zurück, wie man bei Fussballspielen aus sich herausgehen kann? «Nein», sagt er ohne zu zögern: «Im Grundsatz gibt es für mich zwischen einem Fussballspiel und einem Sinfoniekonzert keinen Unterschied: Hier wie dort geht es um Emotionen, und Emotionen sind entscheidend, weil sie unbezahlbar sind, egal ob sie im Fussball nach aussen oder in der Musik primär nach innen gerichtet sind. Selbst das bei Fussballspielen wichtige Gruppenerlebnis kann sich im Konzert einstellen, wenn man da die gebannte Stille von 1800 Menschen im Saal förmlich ‹hört›.»
Möglich macht genau das das KKL mit einem der «akustisch weltbesten Säle», wie Cecilia Bartoli und viele andere loben. Für Haefliger ist deshalb klar: «Für viele Arten von Konzerten bietet das KKL dem Festival auch in Zukunft perfekte Bedingungen.» Daran dürften selbst die im Performance-Bereich wichtigen Neuen Medien nichts ändern, obwohl sie den Klassikbetrieb «in den letzten zehn Jahren stärker verändert haben als die Jahrzehnte zuvor».
Das bestätigt Bachmanns Vergleich mit Fussballübertragungen am Fernsehen: «Da fällt zwar das Gruppenerlebnis weg, aber sie bieten einen klaren Mehrwert mit Slowmotion, Wiederholungen, Kommentaren oder den Blickwinkeln von bis zu 24 Kameras in einem Champions-League-Final. Bei Klassikübertragungen dagegen fällt mit der Akustik, die einen spüren lässt, wie der Klang im Raum vibriert, das Entscheidende weg. Da bleibt die Konserve viel mehr hinter dem Live-Erlebnis zurück.»
Neue Konzertformate sollen das nicht ersetzen, sondern Alternativen bieten. Denn die Emotionen in der klassischen Musik sind unglaublich vielfältig, schwärmt Haefliger: «Da wird gejubelt, gekämpft, geliebt, getrauert, werden aber auch Dinge in Frage gestellt, neue Horizonte aufgerissen.» Genau das treibt Helmut Bachmann um: «Das Konzertritual schlägt das zu sehr über einen Leisten», meint er: «Ich bin persönlich» – er schnippt mit den Fingern – «eher ein Bewegungstyp. Zu tänzerischer Barockmusik könnte ich mir auch ein Stehkonzert vorstellen, bei dem man sich spontan bewegen kann.» Gut möglich, dass der Intendant auch diesen Ball aufnimmt, etwa im neu geplanten Festivalzentrum im Pavillon vor dem KKL (Ausgabe vom Donnerstag). Es wäre ein Tor mehr. Denn es gäbe dem Festival die öffentlich sichtbare Präsenz, die jede Champions League verdient.