Der Film «Aquarius» ist viel mehr als ein Frauenporträt. Das Drama und Familienepos malt ein komplexes Bild der heutigen brasilianischen Gesellschaft.
Clara (Sonia Braga) stammt aus einer gut situierten Familie und lebt seit Angedenken im familieneigenen Apartmenthaus Aquarius am Strand der brasilianischen Stadt Recife. Das Haus stammt aus den 1940er-Jahren, Clara ist in ihren Sechzigern. Die beiden Protagonisten im Drama von Kleber Mendonça Filho sind in etwa gleich alt, durch eine Jahrzehnte lange Geschichte miteinander verbunden.
«Aquarius», so heisst auch der Film, ist Familienepos und Porträt einer Frau im Pensionsalter zugleich. Clara wird in die Handlung eingeführt als junge Frau, die eben ihren Krebs besiegt hat und mit der gesamten Grossfamilie den Geburtstag der freigeistigen Tante feiert – in derselben Wohnung, wo sie später ihre drei Kinder grossziehen und wo der grösste Teil der Handlung spielen wird.
Clara setzt die Tradition starker Frauen in ihrer Familie fort. Die ehemalige Musikkritikerin und Autorin lebt inzwischen allein in ihrem Apartment, der Mann ist gestorben, die Kinder erwachsen, und führt ein geruhsames Leben. Den Haushalt besorgt Ladjane, Clara hat Zeit und Musse für das morgendliche Bad im Atlantik und für die Musik. Die hört sie nicht nur ab Schallplatte, die sie in den vierzig Jahren ihrer beruflichen Tätigkeit gesammelt hat, sondern neuerdings auch ab iPod, den ihr der Neffe immer wieder auch mit eigenen Vorschlägen neu bestückt. Die Familienbande sind stark.
Auch dass sie mittlerweile die einzige Bewohnerin im Aquarius ist, stört Clara nicht, bis die Immobilienfirma, welche die restlichen Wohnungen aufgekauft hat, auch bei ihr anklopft. Was freundlich beginnt, wächst sich zu einem erbitterten Kampf aus; eine Bedrohung von aussen, die Clara in eine ungemütliche Situation bringt.
Der brasilianische Regisseur Kleber Mendonça Filho, geboren 1968 in Recife, versteht es, die Geschichte einer Frau über die Geschichte eines Familienclans mit der einer Stadt und schliesslich eines ganzen Landes zu verknüpfen. Dabei geht er von einer realen Entwicklung, der Welle von Immobilienspekulationen in seiner Heimatstadt, aus. So entsteht ein differenziertes Bild der brasilianischen Gesellschaft, wofür die Farben Schwarz und Weiss nicht ausreichen.
«Aquarius» ist ein Film über die Bedeutung der Familie in Brasilien, womit auch «die Familie» im Sinne mafiöser Strukturen gemeint ist. Aber einfache Schuldzuweisungen gibt es nicht. Auch der skrupellose Projektleiter hat ein Stück weit Recht mit seinem Urteil: Handelt Clara nicht egoistisch und stürzt damit die Familien aus tieferen sozialen Schichten ins Unglück, die darauf angewiesen sind, dass sie verkauft?
Clara ist keine rundum sympathische, aber eine echte und glaubwürdige Figur. Exemplarisch ist die Beziehung zur Haushälterin: Sie sind nicht auf Augenhöhe, Clara ist es gewohnt, dass es nach ihrem Kopf geht. Sie lebt nach ihren Überzeugungen und lässt sich von niemandem dreinreden; kann unerbittlich sein und hart im Urteil. Eine aristokratische Haltung mit gleichzeitig linkem Wertesystem ist in Brasilien nichts Ungewöhnliches. Als Zuschauer ist man aber auch mit Clara allein, wo der Film doch ganz und gar auf sie und ihre Perspektive ausgerichtet ist. Und wird so Zeuge von Einsamkeit, Verwundbarkeit und unerfüllter Sehnsüchte.
So ist es Sonia Braga, die den Film bravourös trägt, die ganzen knapp zweieinhalb Stunden lang. Die 66-jährige Schauspielerin, die mit «Dona Flor e Seus Dois Maridos» (1976) von Bruno Barreto international bekannt wurde und dann für Robert Redford und Clint Eastwood vor der Kamera stand, hat «ein Gesicht, das die brasilianische Kultur verkörpert», wie es Kleber Mendonça Filho ausdrückt. Braga ist die brasilianische Volksschauspielerin schlechthin. Und sie bringt das unglaubliche Charisma und die Schönheit mit, die es für diese Clara braucht (obwohl der Satz «Sie sind eine schöne Frau» einmal zu viel fällt).
«Aquarius» ist ein mutiger und starker Film mit einer mutigen und starken Hauptdarstellerin. Ihre Clara wird man nicht so schnell vergessen: Sie ist Mitte sechzig. Was erwartet sie noch vom Leben? Alles.
Regina Grüter
regina.grueter@luzernerzeitung.ch