KINO: Trostloses Leben nach dem Tod in Manchester-by-the-Sea

Kenneth Lonergan inszeniert tief greifende Geschichten über Menschen wie du und ich. Sein dritter Film «Manchester By The Sea» steigt mit sechs Nominierungen ins Oscar-Rennen.

Regina Grüter
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Casey Affleck wurde für seine reduzierte, berührende Darstellung mit einer Oscar-Nominierung belohnt. (Bild: Universal/PD)

Casey Affleck wurde für seine reduzierte, berührende Darstellung mit einer Oscar-Nominierung belohnt. (Bild: Universal/PD)

Regina Grüter

regina.grueter@luzernerzeitung.ch

Die Möwen kreisen, die Fischerboote schippern auf dem kühlen Nass, reizend hergerichtete ­Häuser zieren die Atlantikküste. Manchester-by-the-Sea ist ein schönes Fleckchen Erde. Die ­Hafenstadt am Cape Ann in Essex County, Massachusetts, ist Schauplatz im gleichnamigen Film von Kenneth Lonergan.

Die Eröffnungsszene zeigt Lee (Casey Affleck) beim sorg­losen Herumalbern mit seinem Neffen Patrick, während der Bruder Joe (Kyle Chandler) das Boot steuert. Doch das ist Vergangenheit. Im Jetzt kann Lee keine Freude mehr empfinden. Er lebt im grauen Boston, 39 Kilometer südwestlich, ein trostloses Leben als Hauswart in einem nicht minder trostlosen Zimmer. Am Abend trinkt er zu viel Bier in der Bar. Er ist in Streitlaune. Der Tod seines Bruders Joe führt ihn schliesslich zurück in die Heimat, in der zu leben es ihm unmöglich geworden ist.

Bis das Schicksal ­ über sie hereinbricht

Autorenfilmer und Bühnenautor Kenneth Lonergan ist in den USA kein Unbekannter. Als Drehbuchautor war er bereits zweimal für einen Oscar nominiert: für seine erste Regiearbeit «You Can Count On Me» (2000) und als Co-Autor für «Gangs Of New York» von Martin Scorsese. Dass man ihn bei uns kaum kennt, hat einen einfachen Grund: Sein erster wie sein zweiter Film «Margaret» (2011) liefen bei uns nicht im Kino. Mit der Qualität der Filme hat das rein gar nichts zu tun. Zum Glück wird sich das nun ändern.

Ganz normale Menschen, ganz normale Familien, die ein einfaches Leben führen, bis das Schicksal über sie hereinbricht. Derart könnte man Lonergans filmisches Interesse umschreiben. Entsprechend ruhig ist der Duktus, und schön komponiert sind die Bilder.

Doch nein, langweilig ist «Manchester By The Sea» nicht. Hervorragend geschnitten, erschliesst sich durch die Rückblendenstruktur allmählich, wieso Lee aufgehört hat zu leben und wieso er nicht in diese Stadt zurück kann. Das aber ist es genau, was Joe testamentarisch festgelegt hat: Lee soll das Sorgerecht für den inzwischen sechzehnjährigen Patrick übernehmen.

Es tut gut, diesen ­Jugendlichen zu sehen

Es sind nicht die Postkartenansichten von Manchester-by-the-Sea, die überzeugen – womöglich sollen sie das Innenleben der Hauptfigur, diese latente Aggressivität, kontrastieren. Es ist die Lonergan eigene Milieu- und Figurenzeichnung. In diesem unfassbaren Drama ist Patrick vielleicht die schönste Figur, grossartig verkörpert von Lucas Hedges. Wieso sollte er sein Leben umstellen und nicht Lee? Was, wenn Lee dazu nicht in der Lage ist? Die Szene mit der grössten Emotionalität, wenn Lee auf seine Ex-Frau Randi (Michelle Williams) trifft, ist auch die schwierigste. Zu Tränen rühren die Szenen, wo gar nicht erst versucht wird, über Gefühle zu sprechen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen