KOLUMNE «ÜBRIGENS»: Heile Kinderwelt

Julia Stephan, Kulturredaktorin der Luzerner Zeitung, über die kindliche Form des Kapitalismus'.

Julia Stephan, Kulturredaktorin
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Julia Stephan, Kulturredaktorin (Bild: Nadia Schärli/LZ)

Julia Stephan, Kulturredaktorin (Bild: Nadia Schärli/LZ)

«Ich rauche nur noch Zigaretten und trinke Bier», sagt der Bub. Die im Zugabteil neben ihm sitzende Mutter blickt verschämt. «Das blaue Rivella ist mein Bier, und das Caramba meine Zigarette», ruft das Kind begeistert aus.

Ich grinse ihm komplizenhaft zu. Wie gern haben mein Bruder und ich die Erwachsenenwelt imitiert! Die Gesellschaft, in der unsere Stofftiere lebten, trug eindeutig kapitalistische Züge. Die wegen der Einführung des Euro nutzlosen deutschen Pfennige meiner Eltern waren unser Kapital. Damit gründeten unsere Delfine die «Gebrüder Flipper» GmbH. Diese vertrieb Schreibwaren, die von unserem geschäftstüchtigen Briefträger Max, einer bunten Raupe, von Haustür zu Haustür getragen wurden – gegen teure Briefmarken.

Während mein geliebter Teddy als Chefredaktor des «Tierlander-Tagblatts» freie Mitarbeiter für ihre Analysen mit 20 Pfennigen entlöhnte, gründete sein Teddybärkumpane den Partyservice Robersieb. Der wiederum vermarktete den homosexuellen, stepptanzenden Wal – wir waren auf Genderfragen sensibilisiert – sowie Stoun, eine graue Maus, die trotz ihrem Äusseren und dem hirnlosen englischen Namen als Superstar Konzerthallen füllte. Bei der Verklumpung des Kapitals regten wir den Markt mit neuen Geschäftsideen an. Fiel jemand trotzdem aus dem sozialen Netz, war die Hilfsorganisation «Pro Tierotute» zur Stelle.

Nur eines gab’s nicht in unserer stark an der Realität orientierten Plüschwelt: Krieg. Also doch heile Welt, irgendwie.

Julia Stephan, Kulturredaktorin

julia.stephan@luzernerzeitung.ch