Konzert Luzern
Treppenhaus im Südpol: Musik aus strenger Partitur befreit

Am Festival «Wege der Wahrnehmung» im Kampus Südpol erklangen Instrumente, Räume und vor allem auch Metronome.

Pirmin Bossart
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Auch sie spielten imTreppenhaus nach Stoppuhr, hier mit Synthesizer, Saxofon und Percussion.

Auch sie spielten imTreppenhaus nach Stoppuhr, hier mit Synthesizer, Saxofon und Percussion.

Bild: Dominik Wunderli (8. Mai 2021)

Samstagabend, Kampus Südpol: In der Betonarchitektur des Treppenhauses entfaltet sich die Komposition «Stop and Start» von Karlheinz Stockhausen. Es ist der zweite Tag des Festivals «Wege der Wahrnehmung» an der Hochschule Luzern-Musik.

Verteilt auf mehrere Etagen sitzen sechs Gruppen von 16 jungen Musikerinnen und Musikern. Sie spielen Instrumente wie Bassklarinette, Cello, Eufonium, Tenorsaxofon, Akkordeon, Perkussion, Viola oder Synthesizer. Wichtig ist der Monitor, über den sie die Anweisungen empfangen, um die Partitur zum Klingen zu bringen.

Orientierung über Stoppuhr und eingespielten Zeichen

Erik Borgir, Leiter Institut für Neue Musik, Komposition und Theorie, und Dirigent Clemens Heil arbeiteten im Vorfeld während Stunden daran, das Stück für die Situation des Treppenhauses «spielbar» zu arrangieren. Die Musizierenden orientieren sich an der Stoppuhr und an per Video eingespielten Impulsen des Dirigenten, die zuvor aufgenommen worden sind. Ein komplexes Regelwerk an definierten Einsätzen und Spielanweisungen, die – streng notiert wie auch mit einem freien Spielraum – in der Aufführung souverän zusammenklingen.

Es fällt auf, wie prägnant die einzelnen Klänge in diesem offenen Akustikraum ins Ohr ­einfallen. Auch ist man sich oft nicht sicher, woher das Cello klingt oder wo einzelne Blechbläser platziert sind. Und plötzlich ist da ein klarer Sinuston, der eine Blech-Streichertextur sanft nach oben biegt. Kürzestmotive wechseln mit murmelnden Klangflächen, die Spannung aufbauen und von abrupten Klangakzenten durchsetzt werden. Es klingt wie befreite Musik aus strenger Partitur.

Anschliessend sitzen wir, maskiert und mit Abstand, im abgedunkelten «Kosmos», einem der drei Säle in der neuen Hochschule Musik. Der attraktive Raum macht Lust auf weitere Konzerte, die man sich auch laut und clubbig vorstellen kann. Dafür gibt die erste Komposition «Septet» (James Tenney) für sechs Elektrogitarristen und einen Elektrobassisten den passenden Vorgeschmack. Trotz der versetzten einzelnen Stimmen, die den anfänglichen Unisono-Kanon zunehmend unterlaufen, hört man ein melodisches und nahezu rockiges Stück Ambient-Minimal-Musik.

Irritierende Klangeffekte

Die Saxofonistin Sofia Perolo steht allein auf der Bühne. «Red Phase» (Steve Reich) öffnet trotz maximaler Reduktion ein reiches Klangspektrum. Das Stück beginnt mit einer eingespielten Sequenz aus wenigen Tönen, die fortlaufend wiederholt wird. Die Instrumentalistin zieht das Muster mittels Zir­kularatmung ohne Unterbruch bis zum Ende durch. Leichte Verschiebungen zwischen eingespieltem Grundmotiv und Live­instrument sorgen für irritierende Klangeffekte. Die Figuren scheinen sich zu dehnen und zu schichten und bilden fortlaufend neue Einheiten.

Für das Stück «352» des Schweizer Pianisten und Komponisten Nick Bärtsch werden vier Flügel auf der Bühne zusammengezogen. Die Komposition wird mit hämmernden Patterns eröffnet und verzweigt sich dann in harmonische Gefilde mit schönen Melodielinien, doch der perkussive Grundflow ist stets präsent. Harte Anschläge und formale Struktur weichen immer wieder auf und lassen im Mittelteil sogar einen Hauch Pathos aufscheinen. Das ist – von insgesamt sieben Pianistinnen und Pianisten – prägnant gespielt und gefällt mit einem zeitgenössischen Duktus, der nicht nur streng denkt, sondern auch rhythmisch fühlt.

Metronome im Klangturm

Geradezu beschwingt klingt zum Abschluss die Ouvertüre der «Sinfonietta op. 49» von Nikolai Kapustin. Sie wird von Jeannine Läuffer und Jure Markic vierhändig am Flügel interpretiert. Ein eklektisches Stück, bei dem man neben klassisch-formalen Strukturen auch Einflüsse aus Jazz und populärer U-Musik hört, die schon fast jovial verwoben und virtuos hingefetzt werden.

Als ungewöhnlicher Andachtsort empfiehlt sich der Klangturm: Im haushohen Betonschacht mit seiner hallenden Akustik ticken 100 Metronome in verschiedenen Zeiteinheiten und lassen das «Poème symphonique» (György Ligeti) wie ein mechanisches Gewitter in die Wahrnehmung prasseln. Wieder draussen, empfangen uns lautstark die Elektrobeats von zwei DJs, die nebenan in der Südpol-Buvette Lust auf den Sommer machen. Ein Zeichen, dass auf dem Kampus Südpol so etwas wie Leben einkehren wird.