Zwei Taschenkalender und ein kleines Notizbuch sind in den Jahren 1943 bis 1945 Echoraum höchster Seelenpein und Bedrängnis für den Soldaten Heinrich Böll. Erstmals erscheinen diese privaten Dokumente – gegen den Willen des Schriftstellers.
Bettina Kugler
An diesem Buch scheiden sich die Geister. Ist es nicht viel zu intim, vom Autor nie zur Publikation freigegeben? Liefert es neue Erkenntnisse oder nur bruchstückhafte Banalitäten? Zweifellos sticht es hervor aus der unübersichtlichen Fülle an Neuerscheinungen, gerade weil es so absichtsvoll unscheinbar daherkommt: schwarz, in Lederoptik, mit Lesebändchen und einem aufgeklebten Titeletikett, wie sie Taschenkalendern zur späteren Archivierung beigefügt sind. Es könnte ein Brevier sein, ein Gebetbuch. Tatsächlich spielt Gott eine zentrale Rolle in Bölls eilig aufs Papier geworfenen, mit sichtbarem Druck der Hand geschriebenen Notaten – Aufzeichnungen wäre schon zu viel gesagt. Die Ausgabe zeigt sie Seite für Seite in Faksimiles über der gedruckten Abschrift. Sie bietet damit viel mehr als nur den Wortlaut eines privaten Dokuments; die geistige und körperliche Verfassung des Soldaten Heinrich Böll lässt sich jeweils am Schriftbild ablesen.
Hier fleht ein junger Mann in Seelenpein und Bedrängnis um Erlösung. Immer wieder schreibt er «Gott helfe mir!», «Gott sei uns gnädig», oder auch nur: «Gott!!!» Er spricht sich Mut zu; er sehnt sich nach zu Hause, nach Annemarie, die er an Silvester 1942 geheiratet hat. Inständig hofft er auf ein Ende des menschlichen Irrsinns, den er seit Jahren Tag und Nacht als Soldat erleidet: auf der Krim, in Rumänien, in Deutschland. Was in den Notizbüchern zu lesen ist, erklärt mehr als jede engagierte Rede, mehr als jeder wohlformulierte, durchdachte Satz, warum Böll bis ans Ende seines Lebens als Pazifist ohne Wenn und Aber auftrat. Zwischen Ortsangaben und nackten Stichworten stellt sich die Stilfrage nicht; wir blättern in der Agenda eines langen Ausnahmezustands. Den jederzeit möglichen Tod vor Augen, allein und doch nie für sich, wird das Notizbuch für den Mitte Zwanzigjährigen zum Echoraum der Verzweiflung und Hoffnung. Manche Einträge muten an wie Stossgebete, wie Anrufungen in einem Psalm. Selten schreibt Böll mehr als einen vollständigen Satz; hin und wieder protokolliert er Träume, notiert Lektüren.
Umso jäher der Kontrast, wenn sich direkt daran eine Notiz über Läuse und Entlausungsmassnahmen anschliesst oder eine Szene wie folgende, notiert im Mai 1944 an der Ostfront: «Unter schwerem Feuer raus über kahle, trostlose Höhen, Hitze, Durst, Durst, Hunger und Qual – Panzer, Flieger, Artillerie – Gott helfe mir! erste Tote und Verwundete – Ich bringe einen Verwundeten zurück – Durst! Wasser! Flieger! Panzer! Jammer! Blut und Feuer! Jammer! Not, Dreck und Elend … die Panzer bleiben hinter uns zurück, weil sie keinen Sprit mehr haben!!» Hunderttausende Zeitgenossen haben Ähnliches erlebt; erzählen können sie es nicht mehr – ein Grund, weshalb Heinrich Bölls Sohn René die Notizbücher nach langem Ringen publiziert hat, gegen den Wunsch des Vaters. Als letztes pazifistisches Manifest.