In der Gemeinde Malters sind rund 70 Gemälde in einem Privatkeller aufgetaucht. Nach dem Tod ihrer Besitzerin fühlt sich niemand für die Werke verantwortlich. Über die Last mit Künstlernachlässen, die keiner will.
Nein, es war kein zweiter Kunstfund Gurlitt, den die Luzerner Künstlerin Gisèle Mengis in der Gemeinde Malters bei einem Bekannten entdeckte. Im Keller einer Privatwohnung nahmen die beiden auf die Bitte des Vermieters hin diesen Sommer rund 70 Acryl- und Ölmalereien in Augenschein. Erotische Südseefantasien. Solide gemalt, aber in der Motivwahl verräterisch an historische Vorbilder erinnernd. Auf manchem Werk hatte sich wegen hoher Luftfeuchtigkeit bereits der Schimmelpilz breitgemacht.
Gemalt hat die Bilder der Künstler Franklin Amrein. Recherchen dieser Zeitung zufolge war das mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Künstlername. Bürgerlich hiess er wohl Franz Amrein. 1980 waren seine Bilder im Kongresshaus Zürich ausgestellt. Die biografischen Angaben zu ihm sind mager. Inhaber einer Immobilienvermittlungsfirma ist er gewesen. Zeitweise war der sich selbst als Weltenbummler umschreibende Künstler auch in Luzern wohnhaft. 1930 geboren, 1989 verstorben, ist eine magere Begleitbroschüre zu seiner Zürcher Ausstellung in den 1980er-Jahren die einzige Spur, die seine Biografie in den Annalen der Kunstgeschichte zurückliess.
Wahrscheinlich wäre Franklin Amrein für immer vergessen worden. Doch dann starb Anfang Jahr seine Witwe, und der seit Jahrzehnten pünktlich eintreffende Betrag für die Miete eines Kellerdepots in einer Privatwohnung in Malters blieb plötzlich aus. Mahnungen des Vermieters landeten auf dem Konkursamt. Nachfahren wurden gesucht. Die lehnten das Erbe ab. Plötzlich stand der Vermieter vor 70 Kunstwerken in schlechtem Zustand. Was soll er damit tun? Wegwerfen oder bewahren? Diese Frage steht seither im Raum.
Mehrere Kunstsachverständige aus der Region haben sich die Werke inzwischen angeschaut. Auf grosse Begeisterung gestossen sind sie nicht. Auch der Luzerner Kunstpublizist Max Wechsler ist skeptisch, ob die vom Schimmel befallenen Bilder aus Malters den Kosten einer Restauration qualitativ standhalten. Dennoch hält er es für problematisch, Kunst einfach zu entsorgen: «Idealerweise wäre alles erhaltenswert», sagt er. Qualitätsurteile werden schliesslich vom Zeitgeist bestimmt.
Fälle wie diese gibt es in der Schweiz zuhauf. 10000 aktive Künstler gibt es in der Schweiz. Die NZZ hat kürzlich anhand der Künstlerdatenbank des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft errechnet, dass in jedem Jahrzehnt rund 500 Schweizer Künstler das Zeitliche segnen. Damit sind nicht einmal die mitgezählt, die im stillen Kämmerlein arbeiten – ohne öffentliche Beachtung.
Was bedeutet das für die Nachlässe, die sich da anstauen? Nur wenige Künstler treffen bereits zu Lebzeiten aktiv Massnahmen. Der auch auf Sammlungen und Künstlernachlässe spezialisierte Kunsthistoriker Franz-Josef Sladeczek beobachtet aber ein Umdenken. «Jüngere Künstler lernen vielfach bereits in ihrer Ausbildung das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass die Dokumentation für den Fortbestand und die Beurteilung ihres Œuvres unerlässlich ist», sagt er. Ältere Künstler würden sich nicht selten sträuben, eine solche Dokumentation anzugehen, da sie nicht zu»Archivaren ihrer eigenen Kunst» werden möchten.
Wer Bilder erbt, hat die Qual der Wahl: Er kann die Bilder selbst sachgemäss, aber platz- und kostenintensiv aufbewahren und restaurieren lassen, wegwerfen oder auf dem Trödelmarkt verschachern – kein Wunder, fand dort der Jahrhundertfälscher Wolfgang Beltracchi die besten Rahmen und Leinwände für seine Fälschungen. Wer die finanziellen Mittel besitzt, kann eine Stiftung mit Privatmuseum gründen und muss darauf hoffen, dass Zeitgenossen und Weggefährten mit ihrem Engagement das Erbe lebendig halten. Eine Alternative bieten Beratungsstellen und Vereine, die sich der Nachlassverwaltung verschrieben haben. Bei weniger bekannten Künstlern empfiehlt es sich, mit Museen und öffentlichen Sammlungen in der Region Kontakt aufzunehmen, wo der Künstler aktiv war.
Doch auch dort kommt man oft nicht durch. Heinz Stahlhut ist als Sammlungskonservator am Kunstmuseum Luzern mit diesen Fällen vertraut. Jährlich erreichen das Kunstmuseum fünf bis zehn Anfragen. Dass es nicht mehr sind, davor schützt das Haus ein klares Sammlungskonzept. «Erben wollen ihre Werke am liebsten zusammenhalten», sagt er. Doch das Sammlungskonzept seines Hauses sieht selbst bei bekannten Künstlern nur eine Übernahme repräsentativer Werkgruppen vor. «Meist ist das eine grosse Enttäuschung für die Nachkommen, weil sie gehofft hatten, mit einem Schlag alle Probleme gelöst zu haben.» Stahlhut rät in solchen Fällen, die Werke auf mehrere Institutionen zu verteilen. Oft gebe es ja mehr als eine biografische Station. Für grössere Ankäufe und die Auswertung eines Nachlasses fehlt den meisten Museen das Budget und Zeit.
Sabrina Negroni betreut die Kunstsammlung der Stadt Luzern. Sie wird ebenfalls regelmässig von Erben kontaktiert. Die städtische Sammlung konzentriert sich auf das aktuelle Kunstschaffen mit direktem Stadt-Luzern-Bezug. «Wir betreiben mit unserer Arbeit auch Spurensicherung», so Negroni. Weshalb man sich hier auch einmal ausnahmsweise für die Übernahme einzelner Kunstwerke entscheidet, bevor diese ganz zerstört würden. Negroni sagt aber auch: «Der Platz ist beschränkt. Und wir besitzen nicht die Ressourcen, sämtliche Werke aufzuarbeiten.»
Eine nachträgliche Rehabilitierung unbekannter Künstler wäre mit solchen Massnahmen durch Nachfahren oder engagierte Kunstliebhaber zwar grundsätzlich möglich – man denke an die vor wenigen Jahren Furore machenden Strassenfotografien des US-amerikanischen Kindermädchens Vivian Maier, die es posthum zu Weltruhm brachte. Aber sie sind äusserst selten.
Laut Matthias Oberli vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft braucht es dafür vor allem zwei Dinge: ein grosses Engagement einer Person und Kapital. Ein gutes Beispiel dafür ist der Zuger Künstler Jürg Henggeler (1935–2009). Henggeler, der zu Lebzeiten mehrheitlich abseits des Kunstbetriebs gearbeitet hatte, wurde dank seinem Bruder wiederentdeckt. 2011 erschien posthum eine Monografie über ihn. Die in Altendorf SZ ansässige Galleria il Tesoro, die auf Künstlernachlässe spezialisiert ist, bemüht sich um Henggelers Vermarktung auf dem Kunstmarkt.
Oberli weiss, wie belastend Bilder für Erben sein können. Nicht jeder ist kunstaffin. Nicht jeder hat Platz und Ressourcen. Mancher bekommt es beim Anblick alter Galeriepreislisten auch mit der unbegründeten Angst vor einer Steuerlast zu tun. Oder glaubt im Gegenteil, eine Goldgrube entdeckt zu haben.
«Wir beraten Menschen, die mit 3000 Grafiken und 200 Plastiken konfrontiert sind», sagt Oberli. Er empfiehlt den Erben, einen Kernbestand zu definieren und diesen mehreren Institutionen anzubieten oder zu verkaufen. Wer sich wenig auskennt, dem könne dabei eine Galerie oder ein Auktionshaus helfen. Ist die Rettung der Werke ein Ding der Unmöglichkeit, bleibe immer noch deren fotografische Dokumentation vor der Zerstörung. Die Bewahrung von Kunst wird angesichts wachsender Depotbestände immer mehr zum Problem. «Wir müssen uns bei solchen Entscheiden grundsätzlich die Frage stellen, wie viele Generationen bereit sind, so ein Erbe lebendig zu halten», sagt Oberli.
Franklin Amrein wird posthum vermutlich Opfer seiner Selbstinszenierung. Ohne biografische Angaben fehlen auch die wichtigen biografischen Ankerstellen für sein Werk. Keine regionale Kunstinstitution fühlt sich derzeit für ihn verantwortlich.
Gisèle Mengis hat die Werke noch nicht aufgegeben: «Vielleicht findet Amreins Werk doch noch einen Platz im Hier und Jetzt!»