Der deutsche Starautor Bernhard Schlink wählt im Roman «Olga» eine ganz besondere Erzählweise. Mittendrin muss man gar befürchten, dass sie misslingt.
Arno Renggli
Wie soll es nun weitergehen, fragt man sich als Leser nach gut der Hälfte des neuen Romans von Bernhard Schlink («Der Vorleser»). Die Titelheldin ist eben gestorben, vorher hat man über ihr Leben gelesen, in welchem sich auch die deutsche Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spiegelt.
Olga findet als junge Frau im Jugendgefährten Herbert ihre grosse Liebe. Doch dieser kommt aus einer sozial viel höher gestellten Familie, was eine Heirat verhindert. Ohnehin wird Herbert von einer unstillbaren Abenteuerlust getrieben, kämpft etwa im Dienst der deutschen Kolonialmacht in Afrika, verfällt der Faszination der Wüste. Und kommt auf die grössenwahnsinnige Idee, die «weisse Wüste», nämlich die Arktis, mit einer bahnbrechenden Expedition zu erobern. Auf einer solchen verschwindet er dann, um nie mehr aufzutauchen.
Olga führt ihr Leben als Lehrerin weiter, hofft noch viele Jahre, dass Herbert doch wieder auftaucht, schreibt ihm Briefe an den Ausgangsort seiner damaligen Expedition. Sie erlebt den Ersten Weltkrieg, der so viele Familien ins Unglück stürzt, die Weimarer Republik, den Zweiten Weltkrieg mit noch mehr Schrecken, die Entfremdung von ihrem Sohn, der zum Nazi wird. Als sie gegen Kriegsende wie viele andere fliehen muss, verliert sie bei einer Explosion ihr Gehör. Doch ihre Tüchtigkeit bringt sie auch durch die Nachkriegszeit. Bei einer Familie, für die sie arbeitet, erlebt sie nochmals so etwas wie Liebe. Als bereits alte Frau wird sie bei einem Bombenschlag auf eine Bismarck-Statue verletzt. Und stirbt in der Folge. Wobei die Story hierzu noch eine Pointe bieten wird.
Dies alles ist, wie von Bernhard Schlink gewohnt, sehr gepflegt erzählt. Die historischen Bezüge werden durch das individuelle Erfahren namentlich der Hauptfigur sehr lebendig. Olga ist eine kluge Beobachterin, entwickelt sich auf leise Art zu einer starken Persönlichkeit. Auch die psychologische Tiefe, etwa beim ruhelosen Abenteuerer Herbert, packt den Leser. Im Grunde könnte man sich alles noch etwas ausführlicher vorstellen.
Aber eben: Es folgt eine Zäsur. Ein Mann erzählt weiter, der damals ein Kind in der Familie war, für die Olga gearbeitet hat. Er macht sich in Skandinavien auf die Suche nach den Briefen, die Olga dem verschollenen Herbert geschrieben hat. Dieser Romanteil wirkt etwas schwerfällig, zumal man nicht recht weiss, worauf er hinauslaufen soll. Irgendwann findet der Erzähler einen Antiquariatsinhaber, der die Briefe aufstöbert und gegen gutes Geld herausrückt. Und auch eine Nachfahrin Olgas taucht auf.
Und dann? Kommen die Briefe von Olga an Herbert im genauen Wortlaut und bilden den dritten Teil des Romans. Ein origineller, aber auch gewagter Schachzug des Autors: Zum einen nützt er die Möglichkeit, über die Briefe viele Leerstellen zu füllen, die der Text zuvor offengelassen hat, was Aha-Erlebnisse auslöst. Und sie transportieren alle emotionalen Facetten einer Frau, die der Abenteurer zurückgelassen hatte: darunter Liebe und Hoffnung, aber auch Zorn und Resignation.
Die Gefahren dieser Erzählform indes liegen in gewissen Wiederholungen und auch Banalitäten, welche die Briefe fast zwangsläufig haben müssen, damit sie authentisch wirken. Doch am Ende geht die erzählerische Komposition auf. Die Geschichte bietet in der Gesamtsicht dann doch viel Inhalt, glänzt sprachlich und löst beim Lesen auch immer wieder grosse Anteilnahme aus.
Bernhard Schlink: Olga.
Diogenes, 320 S., Fr. 32.–