LITERATUR: Der Herr Pfarrer redet Klartext

Ein Buch mit Zündstoff: Gottfried Locher, höchster Reformierter des Landes, nimmt Stellung zu teils hochsensiblen Themen. Dabei überrascht er zuweilen.

Andreas Faessler
Drucken
Gottfried Locher (48) ist der höchste Reformierte der Schweiz. (Bild Marco Zanoni/pixsil.com)

Gottfried Locher (48) ist der höchste Reformierte der Schweiz. (Bild Marco Zanoni/pixsil.com)

«Godis Augen leuchten immer, wenn er Theologie betreibt, die etwas mit Menschen zu tun hat.» Josef Hochstrasser beobachtet Godi genau. Hochstrasser, streitbarer Luzerner Theologe, einstmals katholischer Priester, heute verheirateter reformierter Pfarrer, hat viel Zeit mit Godi verbracht. Der 48-jährige Godi, das ist Gottfried Locher, verheiratet, zwei Kinder. Als Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes ist er der Ranghöchste der Evangelisch-reformierten Landeskirche. Die Gespräche zwischen ihm und Hochstrasser hat Letzterer vergangene Woche als Buch herausgegeben – und bereits im Vorfeld war Kritik laut geworden an gewissen Aussagen Lochers. In der Tat beinhaltet das Buch Stellungnahmen und Ansichten, die in gewissen Kreisen Unmut hervorrufen mögen. «Gottfried Locher – Der ‹reformierte Bischof› auf dem Prüfstand» ist als Titel dennoch etwas verheissungsvoller, als der Inhalt sich schliesslich erweist. Eins vorweg: Enttäuscht wird der erwartungsvolle Leser dennoch kaum. Es handelt sich aber weder um ein Verhör noch um den listigen Versuch, einen hohen Würdenträger in Erklärungsnot zu bringen.

Ehrlich, unverblümt

Vielmehr ist es das angeregte Gespräch zweier Menschen, in dem der eine Rede und Antwort steht für Fragen moralisch-ethischer Natur, mit welchen der einzelne Mensch sich einmal oder mehrmals innerhalb seiner Lebensspanne auseinandersetzen muss. Und viele der Fragestellungen sind mehr als heikel – besonders für den exponierten Vorsteher einer Landeskirche. Wie steht der höchste Reformierte denn zu Suizid? Was denkt er über die Abtreibung? Wie steht er zur radikalen Fraktion des Islams? Wie weit darf – oder soll – Ökumene gehen? Wie hat er es mit der Homosexualität? Und wie mit Himmel und Hölle? Josef Hochstrasser tastet sich zuweilen vorsichtig zwar, doch zielstrebig an Locher heran. Und dieser antwortet unverblümt, ausführlich, ehrlich und ohne zu beschönigen. Zuweilen erstaunt seine unerwartete Offenheit geradezu, und der Leser ist verleitet, sich zu fragen, ob der hohe Kirchenmann sich nicht etwa durch gewisse Aussagen kompromittiert. Ob es an der offenbar freundschaftlichen Gesinnung der beiden Gesprächsleute liegt? Immerhin nennt Hochstrasser sein Gegenüber durchs Band liebevoll «Godi».

«Wir brauchen Homosexuelle»

Fakt ist, dass Gottfried Locher bei weitem nicht mit einer «salbungsvollen Pfarrherrlichkeit» – so nennt es Hochstrasser – redet, sondern als Mensch wie jeder andere, losgelöst von kirchlichen Dogmen; und doch verletzt er sie nie explizit. Aber er erlaubt es sich durchaus, sie in Frage zu stellen. Bei bestimmten Gruppierungen – wagen wir hier mal, als Beispiel die katholischen «Hardliner» zu nennen – dürfte so manches Statement Lochers dennoch für hochrote Köpfe sorgen. Nicht nur, weil er etwa die Hölle spannender findet als den Himmel. «Homosexuelle sind Teil von Gottes Schöpfung. Sie tun der Welt gut, wir brauchen sie», sagt Locher. Ein scheinbar grober Seitenhieb an die römisch-katholische Kirchenlehre. Oder: «Ab einem gewissen Alter ist es ausgesprochen hilfreich für die andern, wenn man das Zeitliche segnet.» Ebenfalls eine Ansicht, die dem Anschein nach reichlich Zündstoff enthält. Es riecht geradezu nach Provokation. Erstaunlicherweise weiss Locher mit seiner folgenden Argumentation die Wogen schnell zu glätten. Aber nicht immer. Beim Thema Prostitution wagte er sich offensichtlich auf gar zu dünnes Eis, indem er meint: «Befriedigte Männer sind friedlichere Männer. Darum sage ich, wir sollten den Prostituierten dankbar sein.» Dies brachte Locher bereits vor der Veröffentlichung des Buches teils harsche Kritik und den Vorwurf des Sexismus ein.

Weiterspinnen ...

Man muss als Leser die Ansichten Gottfried Lochers bei weitem nicht alle teilen. Doch erweist er sich im Laufe des angeregten Diskurses als ein sympathischer, weltoffener Kirchenmann, der sich nicht für bissige Selbstkritik zu schade ist und mit seinen oft weniger von geistlichen Vorschriften als von menschlicher Vernunft und dem Glauben an das Gute inspirierten Stellungnahmen den Leser vielmehr zum Sinnieren anregt, denn ihn von etwas zu überzeugen versucht – ohne den Moralapostel zu spielen, ohne erhobenen Zeigefinger, ohne etwaige Andersdenkende zu verurteilen. Und das ist auch der Anspruch dieses ausgesprochen süffig verfassten, aufschlussreichen Buches: Der Leser soll oder darf die Gedanken Lochers zu eigenen Überzeugungen weiterspinnen.

Hinweis

«Gottfried Locher – Der ‹reformierte Bischof› auf dem Prüfstand» von Josef Hochstrasser. 168 Seiten, ISBN 978-3-7296-0855-9, Fr. 32.–.

Buchcover von Gottfried Locher (Bild: zvg)

Buchcover von Gottfried Locher (Bild: zvg)