Ljudmila Ulitzkaja hat ein eindrückliches Porträt der russischen Gesellschaft geschrieben: Wie der Einzelne in seinen privaten Nöten von der Politik beeinflusst wird.
Mit dem Prozess gegen den Theaterregisseur Kirill Serebrennikow diesen Sommer versuchte das Putin-Regime, eigenständige Initiativen zu verhindern. Kulturschaffende sollen wieder der patriotischen Erziehung dienen. Die Macht, meint Ljudmila Ulitzkaja, ist nur noch damit beschäftigt, «sich selbst zu erhalten». Schon Vacláv Havel sagte: «Wo die Lüge regiert, ist jede Wahrheit Opposition.»
Ulitzkaja lebt in Moskau und denkt bei «Erziehung» ganz anders als Putin. Sie schreibt über eine «schweigende Generation» in Russland. In ihrem Roman «Die Jakobsleiter» erzählt sie deshalb die Geschichte einer ganzen Generation: Er handelt von verletzlichen Menschen, von Liebe und Egoismus, er zerrt nicht die Schrecknisse des Stalin-Regimes in den Mittelpunkt und ist doch vorbehaltlos wahr, ausufernd in der Tradition russischer Romane.
So beginnt die «Jakobsleiter» mit der Geburt eines Kindes. Jurik verkörpert als Sohn von Nora und jüngster Spross der Familie den jungen Russen, der im 21. Jahrhundert eine Zukunft haben soll. Er findet, nach einer Phase der Drogensucht in New York, zurück in Russland seine grosse Liebe. Es ist viel Liebe in diesem Roman. Grossvater Jakow schreibt aus dem Krieg, dann aus der Verbannung Briefe an seine Frau Marussja, die durch ihre sehnsüchtige Zuneigung berühren. Marussja wollte die Verbannung nicht mit Jakow teilen, der als Wirtschaftswissenschafter schnell die Schwächen der Sowjetunion erkannt hatte. Jakow ahnt es: «Briefmarken halten keine Ehe zusammen.» Und als er nach Stalins Tod aus Sibirien zurück nach Moskau findet, holt ihn niemand am Bahnhof ab.
Jakows Briefe sind authentische Dokumente. Ulitzkaja hatte lange Angst davor, sie zu lesen, wurde sich dabei aber klar, dass das Verschwiegene nicht nur die Vergangenheit ihrer Familie, sondern zugleich jene ihres Landes ist. Sie gibt Grossmutter Marussja breiten Raum im über 600-seitigen Roman. Marussja verachtet alles Bürgerliche, nicht aber die Künste. Nora, ihre Enkelin, in manchen Zügen identisch mit der Autorin, arbeitet beim Theater. Auch einen Schweizer Aspekt gibt es in der Familiengeschichte: Im Jahr 1873 ist Pinchas Kern als Uhrmacher aus La Chaux-de-Fonds nach Kiew gezogen. Auch er ist ein Vorfahre von Ljudmila Ulitzkaja, die bildhaft und wortmächtig durch das Jahrhundert führt.
Zu Beginn der «Jakobsleiter» droht man wegen der vielen Personen den Faden ein wenig zu verlieren. Doch je weiter man liest, umso stärker wird man gefangen von den Schicksalen der einzelnen Menschen, die uns in ihren Gefühlen so fremd nicht sind und uns Russland so viel näherbringen.
Erika Achermann