Nach der Extraklasse aus Berlin jene aus Wien: Das Schlusskonzert unterstrich den besonderen Stellenwert Simon Rattles auch am Luzerner Festival.
Fritz Schaub
Die beiden letzten Nächte gehörten am Lucerne Festival traditionellerweise den Wiener Philharmonikern. Weil sie keinen Chefdirigenten kennen, richtet sich das Augenmerk immer besonders auf den jeweiligen Dirigenten. Ihre Extraklasse zeigten die Wiener Philharmoniker bereits im ersten Konzert unter Semyon Bytchkov, der mit hoher Sensibilität Haydns «Trauersinfonie» und die «Wesendonck-Lieder» von Richard Wagner anging. Mit der liedhaft und schlackenlos singenden Mezzosopranistin Elisabeth Kulman drang er gar in die tiefsten Schichten der melodietrunkenen Tristan-Vorstudien ein. Unsere Sitznachbarin war derart ergriffen, dass ihr keine Steigerung mehr möglich schien und sie nach der Pause nicht mehr zurückkam.
Das Schlusskonzert am Sonntag unterstrich dann indirekt den besonderen Stellenwert Simon Rattles am Lucerne Festival. Denn es war wohl das erste Mal, dass ein Dirigent hier sowohl die Berliner als auch die Wiener Philharmoniker dirigierte, zu denen Rattle seit langem gute Beziehungen unterhält.
Dieser Stellenwert hängt mit seiner Hauptarbeit mit den Berliner Philharmonikern zusammen, die er seit 2002 zu einem Orchester des 21. Jahrhunderts umkrempelte. Dazu gehörten Education-Programme wie das von Kindern getanzte «Sacre du printemps» oder die Einführung der Digital Concert Hall. Rattle integrierte Neue Musik, erweiterte das Repertoire durch französische Werke. Wie er barocke Musik im Geist historischer Aufführungspraxis dirigiert, zeigten in diesem Sommer seine Haydn- und Mozart-Wiedergaben. Und dass die Brillanz und die seit Karajan bekannte Klangmacht und -pracht wie auch der fanatische Einsatzwille der Berliner darunter nicht gelitten haben, bewies die scharf zugespitzte Wiedergabe von Schostakowitschs vierter Sinfonie.
Mit alledem passt Rattle wie kein Zweiter in das Lucerne Festival und dessen fortschreitende Öffnung unter Michael Haefliger hinein – und schien und scheint prädestiniert, hier eine grössere Rolle zu spielen. Ein Indiz war, wie Rattle letztes Jahr ausserhalb seiner Philharmoniker das Lucerne Academy Orchestra leitete, sich unter die Leute mischte und im Luzerner Saal im alternativen 40min-Konzertformat auftrat.
Wäre er nicht auch der ideale Nachfolger Abbados in Luzern gewesen? Die Frage fiel, als Rattle in einem Interview mit der «Welt» erklärte: «Ich hatte eine feine Zeit in Luzern mit der Academy. Ich habe mit dem Orchester einige der schönsten Konzerte meines Lebens gehört.» Aber die Frage nach der Abbado-Nachfolge, für die inzwischen Riccardo Chailly bestimmt wurde, verneinte er. Abgesehen davon, dass er nicht angefragt worden sei, wären ihm in der Nach-Berliner-Zeit die Philharmoniker und Abbados Geist zu nahe gewesen.
Dass Rattle, ebenfalls im Sinn von Haefligers Festivalphilosophie, Innovation und Traditionen verbindet, erlebte man im Schlusskonzert mit den Wiener Philharmonikern. Rattle nahm hier quasi ein weiteres Ziel nach dem 2018 vorgesehenen Rücktritt von Berlin vorweg: die Rückkehr in seine «alte Heimat», in Englands Musikhauptstadt, wo er 2017 die Leitung des London Symphony Orchestra übernimmt.
Eine Rückkehr nach England war im Schlusskonzert mit den Wiener Philharmonikern die Aufführung des Oratoriums «The Dream of Gerontius» von Edward Elgar und gleichzeitig eine Luzerner Fortsetzung der Proms, wo die Aufführung mit dem BBC Proms Youth Choir ebenfalls stattgefunden hatte. Dieses bei uns selten erklingende Oratorium war schon in Rattles 18-jähriger Birminghamer Zeit einer der Schwerpunkte, und er hat es dort auch auf CD eingespielt.
Selbst dem Katholiken Edward Elgar war das Gedicht des Kardinals John Henry Newman theologisch zu sehr befrachtet, sodass er mit Ausnahme des ersten Teils den siebenteiligen Text radikal zusammenstrich und es bei zwei Teilen beliess. Der erste in Musik gesetzte Teil wirkt am geschlossensten. Das «Parsifal»-ähnliche Vorspiel, das vom Klangschmelz der Wiener Streicher ungemein profitierte, verbreitete eine geheimnisvolle Stimmung, die über das ganze Werk anhielt. Im Zentrum aber stand Gerontius (wörtlich: alter Mann) als reuiger Sünder, der an der Schwelle des Todes mit dem Chor der Freunde um sein Seelenheil ringt. Das ergab spannende, vom stark geforderten Tenor Toby Spence (Gerontius) und vom rund 120-köpfigen Chor getragene Szenen zwischen expressiven Ausbrüchen und sphärischen Klangflächen, denen der Bassbariton Roderick Williams als Priester (und später als Todesengel hoch auf der Orgelempore) als unumstössliche Macht entgegenstand.
Der zweite Teil beschreibt etwas umständlich den vom Engel (die ganz in Weiss mit Flügelansätzen gewandete Mezzosopranistin Magdalena Kozena) begleiteten Weg zum Fegefeuer und in die Ruhe des «ungemessnen Grabs». Er hätte eine Straffung ertragen, aber die visionären Endzeitbilder inspirierten Elgar zu ausdrucksstarken, auch weltlich-konkret wirkenden Szenen.
Die jungen Stimmen des Chors waren für die Engel und die Seelen besonders prädestiniert und verliehen den wütenden Dämonen eine furchterregende Wildheit. Wie Rattle in diesem Chor vor drei Jahren die besten jungen Sängerinnen und Sänger aus ganz Grossbritannien zusammenfasste, ist ein weiteres eindrucksvolles Zeugnis für die zukunftsweisende Innovationskraft dieses Dirigenten, dem die Förderung des Nachwuchses ein Herzensanliegen ist.