Die Russen kommen, und mit Mirga Gražinyte-Tyla eine Frau, die es unter den Dirigenten zu einer Spitzenposition gebracht hat. Ein Wochenende in Luzern, wo gerade die Musik spielt.
Rolf App
Es ist ein Elementarereignis, und als Elementarereignis hat auch sein Schöpfer Modest Mussorgsky seine «Johannisnacht auf dem Berge» empfunden. «Irgendetwas brodelte in mir», schrieb er, und brodeln lassen es an diesem Freitagabend auch das Mariinsky Orchestra aus St. Petersburg und sein charismatischer Dirigent Valery Gergiev – von dem Spötter sagen, er dirigiere mit einem Zahnstocher. Etwas grösser allerdings ist sein Dirigierstäblein schon. Gross ist auch die Wirkung seiner sparsamen Bewegungen. So dass im Konzertsaal des KKL Luzern an diesem mit Veranstaltungen reichbestückten Wochenende des Lucerne Festival jener Hexensabbat losbricht, den das Stück in schrille Töne fasst.
Gergiev bremst, zieht wieder an, leuchtendes Blech schmettert in den Saal, aber natürlich spürt das Publikum von heute nur noch wenig von jener Revolution, die Mussorgsky da losgetreten hat – mit der «Johannisnacht», mit den «Bildern einer Ausstellung», die nach der Pause auf dem Programm stehen, und mit den «Liedern und Tänzen des Todes», gesungen von Oksana Volkova.
Dass es – fünfzig Jahre vor der politischen – eine kulturelle Revolution gewesen sein muss, das allerdings kann man merken. Denn wenig, sehr wenig verbindet Mussorgsky, der in seinen Opern die russische Geschichte entdeckt, mit seinem westlich orientierten Antipoden Pjotr Tschaikowsky – der ihn denn auch aus tiefstem Herzen verachtet hat. Intensiv spürt man die Verbindung von Orchester und Dirigent, intensiv das Temperament und die Leidenschaft, die diese Musikerinnen und Musiker mitbringen. Manchmal, in den «Bildern einer Ausstellung», klingen sie geisterhaft zart und weich, dann wieder hört man gewissermassen die Glocken des Kreml dröhnen. «Ich war bis jetzt Kosmopolit», hat Mussorgsky nach einem Besuch in Moskau geschrieben, «nun aber geht irgendeine Verwandlung in mir vor: Alles Russische wird mir nahe und vertraut.» Wer könnte das besser hörbar machen als ein russisches Orchester mit einem russischen Dirigenten?
In der Konzertpause steige ich hoch, Stockwerk um Stockwerk, bis ich auf der gedeckten Terrasse angekommen bin. Noch regnet es, im weit herausragenden Dach spiegeln sich die bunten Lichter des Verkehrs am gegenüberliegenden Ufer. Unübersehbar die Hotelpaläste mit ihren Leuchtreklamen. Und man kann wieder einmal entdecken, wie schön Luzern auch im Regen ist.
Am andern Mittag hat es aufgehört zu regnen. Nur zehn Minuten sind es mit dem Schiff bis Tribschen, wo auf einem Hügel mit schönem Park das Richard- Wagner-Museum sich befindet. In den Wirren seines Liebeslebens hat Richard Wagner 1866 München und seinen reichen Gönner, König Ludwig II., verlassen müssen und hier ein Haus gefunden in den geliebten Bergen. Zu besichtigen sind sein Flügel, die Partituren, die hier bis 1872 entstehen. Hier schreibt er auch das ganz üble antisemitische Pamphlet «Das Judentum in der Musik» neu. In einem Schaukasten liegt ein Pantoffel. «Florale Seidenstickerei auf seidenem Obermaterial», ist dazu vermerkt. Der Mann liebte Luxus über alles, Schulden hin, Gläubiger her. Vielmehr: Er brauchte ihn, um kreativ sein zu können. Um jenen Kosmos aus Figuren, Geschichten, vor allem Tönen erschaffen zu können, der viele noch heute zu fesseln vermag.
Wie werden wir eigentlich, was wir sind? Was prägt uns, was nehmen wir auf, was lassen wir an uns vorüberziehen? Wie wirkmächtig ist die Welt jenseits der Worte – die Welt der Töne? Dass das Lucerne Festival diesen Sommer das Thema «Identität» ins Zentrum setzt, macht Sinn in einer Zeit und in einer Welt, deren wichtigstes Kennzeichen ein tiefgreifender Verlust an Orientierung ist. «Identität»: das ist, was jeder Komponist sucht und was seine Interpreten finden müssen. Sie müssen sich die Musik anverwandeln. Wie jene drei jungen Pianisten, die Valery Gergiev am Samstagabend zum Prokofjew-Marathon auf die Bühne bittet. In dreieinhalb Stunden bewältigen Behzod Abduraimow, Daniil Trifonov und Sergej Redkin jene fünf brutal schwierigen, mit scharfen Kontrasten gespickten und zunehmend poetischer werdenden Klavierkonzerte, die Sergej Prokofjew zwischen 1911 und 1931 komponiert hat. Redkin und Abduraimow sind sehr, sehr gute Pianisten, Trifonov allerdings bringt beim zweiten Klavierkonzert noch jene Fähigkeit zur Versenkung mit, die ihn denn doch hervortreten lässt.
Doch zurück zum Thema, zur Identität. Das Digitale überwältigt uns, mehr und mehr Lebensbereiche beherrscht es. Und doch gibt es da ein starkes Bedürfnis nach dem Analogen, nach dem Konzert. Der Pianist András Schiff spürt es, der nach seinem Recital zusammen mit Martin Meyer, dem ehemaligen Chef des Feuilletons der NZZ, ein Buch vorstellt, das sie zusammen erarbeitet haben (Musik kommt aus der Stille, Bärenreiter/Henschel). Er habe volle Säle, sagt er – und ein aufmerksames Publikum.
Meyer ist es auch, der ein NZZ-Podium mit dem Soziologen Harald Welzer, der Lyrikerin Nora Gomringer und der Geigerin Patricia Kopatchinskaja leitet. Identität sei etwas «Fluides, Fragiles» geworden, sagt Welzer. Denn Identität brauche Echo. «Sie existiert nur, wenn es ein soziales Umfeld gibt.» Dieses Umfeld aber verlagert sich mehr und mehr ins Digitale.
Das löst Unsicherheit aus –und jenen Gegentrend, der sich in vollen Sälen äussert. Denn wo ist das Authentische zu Hause, wenn nicht in der Kunst? Künstler tauchen ein. «Ich werde das Musikstück», sagt Patricia Kopatchinskaja. «Das hat etwas Magisches.» Denn dabei knüpft sie auch eine intensive Beziehung zum Publikum, nimmt es mit.
Ein nächstes Mal treten die Zuhörer diese Reise am Sonntagabend in der Gesellschaft des Cellisten Gautier CapuÇon, der Dirigentin Mirga Gražinyte-Tyla und des City of Birmingham Symphony Orchestra an. Und erlebt eine Frau, die voller Energie eines der führenden Orchester der Welt durch Sergej Rachmaninows komplexe Sinfonie Nr. 3 a-Moll führt, die am Vierwaldstättersee entstanden ist. Und einen Solisten, der – noch dazu an seinem Geburtstag – Edward Elgars an verborgenen Schönheiten reiches Cellokonzert e-Moll op. 85 wunderbar schlicht zum Klingen bringt.