LUZERN: Bungee-Jumping im Rundtheater

Lust an der Vogelperspektive: Georg Reischl choreografiert im «Globe»-Theater.

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Schlagzeuger Vincent Glanzmann und Choreograf Georg Reischl in der Probe. (Bild: Ingo Höhn/PD (16. September 2016))

Schlagzeuger Vincent Glanzmann und Choreograf Georg Reischl in der Probe. (Bild: Ingo Höhn/PD (16. September 2016))

Mit rasch knackendem Puls legt Schlagzeuger Vincent Glanzmann für die Tänzerinnen und Tänzer des Luzerner Theaters einen treibenden Rhythmusteppich. Über mehr als eine Viertelstunde hinweg weitet sich dieser mit glöckelnden Klangwellen im frei geräumten Raum des «Globe»-Theaters aus und wirbelt mit einer soghaften Steigerung, die auch mal stampft und knallt, die Bewegungen der 14 Tänzer durcheinander.

Aber wie gibt man einem solchen kollektiven Durcheinander klare Formen? Choreograf Georg Reischl wirkt bei den Unterbrechungen in dieser Probe zur Premiere des Tanzabends «Tanz 22: Up/Beat» der Beliebigkeit entgegen. Wie sich die Tänzer durchs Gemenge «hindurchschlängeln», gefällt dem österreichischen Choreografen. Aber die Bewegungen sollen nicht ziellos dahingleiten, sondern das Gefühl vermitteln, dass es sie an einen bestimmten Ort «hinzieht». Wie die Schwerkraft im «freien Fall»: «Das ist wie Bungee-Jumping!», ruft Reischl lachend in die Runde.

Blick von rundum und von oben

Die Schwerkraft, das sind in dieser Uraufführung die anderen. Denn Reischl, der Tänzer beim Tanzrevolutionär William Forsythe war und dessen sehr physische und energiegeladene Tanzsprache in Luzern schon mehrmals zu sehen war, erzählt auch in «Tanz 22: Up/Beat» keine lineare Geschichte: «Das Thema des Stücks ist die Kommunikation – der Austausch zwischen den Tänzern, aber auch zwischen den Tänzern und dem Schlagzeuger Vincent Glanzmann», sagt er im Gespräch.

Glanzmann konkretisiert: «Die Abläufe sind festgelegt. Aber ich versuche, im Moment auf die Energie zu reagieren, die ich von den Tänzern spüre. In der Kommunikation aus Erwartungshaltungen auszubrechen, ist ebenfalls Thema des Stücks. Wenn ich etwas Unerwartetes spiele, sind auch die Tänzer vor neue Entscheidungen gestellt.»

Neben Luigi Nonos «Prometeo» ist «Tanz 22: Up/Beat» die einzige Produktion im umgebauten «Globe» des Luzerner Theaters. Anders als bei «Prometeo» sitzen hier die Zuschauer auf den Rängen, die 200 Quadratmeter grosse Spielfläche wird frei geräumt für die Tänzer. Das schafft eine doppelt neue Raumsituation: Das Publikum sitzt nicht nur rund um die Tanzfläche, sondern blickt von oben auf diese herunter. Wie gehen Reischl und Glanzmann, der als Musiker eng in die Entwicklung des Stücks einbezogen wurde, mit diesem Raum um?

Es mag überraschen, dass die Aufsicht von oben wichtiger ist als die Rundumsicht. Letztere stellt insofern eine Her­ausforderung dar, als Reischl die Bewegungen der Tänzer «demokratisch» nach allen Seiten hin orientieren muss: «Aber der einzelne Besucher hat, anders als in ‹Prometeo›, wo man die Plätze wechseln kann, nur eine Perspektive.»

Spiel mit den Raumniveaus

Umso bedeutsamer wurde die vertikale Achse, das Spiel mit den Raumniveaus vom Tanzboden hoch zum zweiten Rang. Das gilt schon für die Musik: «Ich musste viele klingende Schlaginstrumente einbeziehen, die den Klang über weite Strecken und nach oben tragen», sagt Glanzmann, «und ich habe gewisse Passagen aufgenommen, die über Lautsprecher auf verschiedenen Niveaus im Raum zugespielt werden.» Mit der Vogelperspektive spielt auch Reischls Choreografie. «Das Publikum hat hier eine Sicht von oben, die früher Königen oder der Kunst vorbehalten war. Welches Lustempfinden sich damit verbindet, bestätigt sich noch heute, wo man eine Drohne aufsteigen und damit in Nachbars Garten gucken kann», lacht Reischl. Er hatte schon als Kind Spass daran, «auf den Zehenspitzen nach oben zu streben».

Das Hochstreben, das sich der «Vergänglichkeit entgegenstellt», inszeniert Reischl, indem er im ersten Teil dem bodenverhafteten Gehen auf zwei Beinen allmählich Höhe erschliesst, unterstützt von Requisiten wie Regenschirmen, Ballonen und Trockeneis. Dennoch haben im «Globe» den höchsten Punkt immer die Zuschauer auf den Rängen inne, die auf die Tänzer hinunter- und zu denen die Tänzer hochblicken.

Die grosse Steigerung passiert denn wieder auf dem Boden: Nach dem Vorbild des balinesischen «Kecak»-Rituals treibt Vincent Glanzmann in der eingangs beschriebenen Szene mit repetitiven Rhythmen die Tänzer zu einer Art kollektiven Ekstase. Das Sinnbild einer beschleunigten Gesellschaft, so Reischl, stellt die Tänzer vor enorme Herausforderungen: «Wie in der Musik gilt es hier, mit repetitiven Mustern zu kommunizieren, ohne in Gewohnheiten zu verfallen. Eine Lebensaufgabe!», lacht er.

Tänzer schlängeln sich durch

Die grösste Überraschung bei dieser neuartigen Raumsituation ist, dass die Zwischenräume enorm wichtig werden. «Zwischen-3raum» hiess schon eine frühere Luzerner Choreografie von Reischl, der vor acht Jahren die Ära der Tanzleiterin Kathleen McNurney eröffnet hat. Und mit den Räumen zwischen den Tänzern spielt auch «Tanz 22: Up/Beat». Das Durcheinanderschlängeln der Tänzer, das sich aus der Seitenperspektive zum Durcheinander vermengt, lässt von oben klare Muster erkennen. «Die Draufsicht macht im Chaos die Ordnung sichtbar», bringt es Reischl auf den Punkt.

Auch das gehört zum Thema Kommunikation, bei der mit entscheidend ist, was zwischen den Körpern passiert und eben selbst nicht körperlich ist. Umso bedeutsamer ist die Rolle der Musik: «Kommunikation findet ja immer zwischen zwei Polen statt», sagt Vincent Glanzmann dazu: «Das gilt hier auch für die Tänzer und mich als Musiker. Und wenn man diese gestaltet, indem man sich aufeinander einlässt, gibt es auch da keine Sicherheit. Da befinden sich auch Musik und Tanz im freien Fall.»

Urs Mattenberger