LUZERNER THEATER: Tanz bewegt sich zeitlos in Hochspannung

«Tanz 24: Timeless» im Luzerner Theater war ein Tanzfest. Der dreiteilige Abend führt Potenziale von zeitgenössischen Choreografien vor, getanzt von einem begnadeten Ensemble.

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Zach Enquist und Aurélie Robichon in Crystal Pites Choreografie «A Picture of you falling». (Bild: Gregory Batardon/LT)

Zach Enquist und Aurélie Robichon in Crystal Pites Choreografie «A Picture of you falling». (Bild: Gregory Batardon/LT)

Der Wachmacher an dieser Premiere ist «Niflheim». Vom ersten Moment an ziehen Ton, Licht und Bewegung in den Bann. Und es gibt kein Entrinnen aus der eisig-mythischen Nebelwelt, in die einen der taiwanesische Choreograf Po-Cheng Tsai katapultiert.

Sieben Tänzerwesen schneiden in der ersten Choreografie dieses Tanzabends Bewegungen in die Luft. Alle tragen Masken, darüber lange weisse Zöpfe. Stecken Frauen oder Männern dahinter? Die Geschlechter werden nebensächlich. Starke Körper hexen immer neue Energien aus sich heraus. Das wirkt ebenso archaisch wie futurisch: Taiwanesische Tanzfolklore geht in globalen Breakdance über.

Archaische Science-Fiction aus Taiwan

Zwischendurch löst sich jemand aus der Gruppe, um zu einem Solo anzusetzen. Beständig nimmt die Soundkulisse von Ming-Chien Li in Beschlag. Er habe dem Filmkomponisten gesagt, er wolle ein Action-Movie auf der Bühne, sagt der Choreograf im Programmheft.

Einen Höhepunkt bilden die wuchtigen Samtröcke: Zu den sich verdichtenden Trommelklängen schweifen sie auf der Bühne herum. Nicht synchron, sondern wirkungsvoller im Kanon – ein berauschendes Finale!

2015 sah Kathleen McNurney, Leiterin von Tanz Luzerner Theater, den jungen Taiwanesen in Kopenhagen. Dort gewann er die «International Choreography Competition». Mit dem neu entwickelten Stück bringt Tsai nun archaische «Science-Fiction» nach Luzern. Diese bildet einen spannungsvollen Kontrast zum Duett der Starchoreografin Crystal Pite. Abgerundet wird der dreiteilige Abend durch Bryan Arias – ebenfalls preisgekrönter Nachwuchschoreograf und Tänzer in Pites Compagnie «Kidd Pivot».

Blättern in einem lebendigen Bilderbuch

Kürzlich Royal Opera House London, nächstes Jahr Opernhaus Zürich, jetzt Luzerner Theater: Die kanadische Choreografin Crystal Pite gehört zu den gefragtesten der Zeit. Ihre Stücke sind relevant, eindringlich, wollen, dass die Zuschauer mitgehen.

Wie jetzt. Mobile Laternen bilden einen Halbkreis. Sie beleuchten den Ort mit so wenig Licht wie nötig. Eine Stimme sagt: «This is a picture of you as young women. This is your hand. This is your back.» Mit kunstvollen Bewegungen illustriert Tänzerin Aurélie Robichon jedes Wort, greift so weit nach hinten, dass sie fast das Publikum berührt. Erinnerungen eines Paares werden hier neu gespielt. Bühnenpartner Zach Enquist folgt den Worten: «This is a picture of you, falling. Knees, hip, hands, elbows, head. This is how you collapse.»

Zunächst erscheinen die Tanzenden einzeln. Sie kündigen sich durch Lichtspots im Hintergrund an. Es ist, als ob man in einem lebendigen Bilderbuch blättern würde. Comicartige Geräusche geben der Emotionalität nötigen Humor. Jede Geste ist hochpräzise im Fluss wie in der Verzerrung (Einstudierung Sandra Marín Garcia). Und wenn Enquist mit der Hand illustriert, wie das Herz ruckartig aus seinem Körper zu Boden fällt, liegt Robichon dort. Zum Schluss schauen die zwei ins abendrote Lampenlicht. Ein malerischer, offener Ausgang.

Twisten unter der Kopflast

Nach einer längeren Pause hängt in Bryan Arias’ «Viewpoints» eine riesige Wolke am Bühnenhimmel. Darunter erscheinen 13 Tänzer mit überdimensionalen Masken als Alter Egos. Damit will Bryan Arias zeigen, wie kopfbetont der Mensch zuweilen ist. Allerdings macht er das undogmatisch: Unter der Kopflast lässt er mit den Schultern twisten. Wenn das Grüppchen die Bühne verlässt, bleibt jener Mann, der sich als Dario Dinuzzi entpuppt. Er steigt ins schwarze Loch im Boden hinab, in dem auch die vom Himmel fallende Wolke verschwindet: der ganze Nebel im Plastik einfach weg.

Und nun? Es geht weiter, ­«Timeless» oder zeitlos, wie der Abend heisst, in unterschiedlichen Konstellationen: Frau-Mann-Duett, reines Männergespann, erweiterte Gruppe; die Übergänge zwischen den Szenen verlaufen nahtlos. Mit ihnen kommen und gehen auch Töne. Und wenn zum Schluss nur noch aus einem kleinen Lautsprecher Sound ertönt, wirkt das erotische Duett noch näher.

Während im Foyer das Ensemble gefeiert wird, wandelt sich die Theaterbühne zum «Klub Global». Das Tanzfest, das vom 5. bis 7. Mai in der Schweiz über viele Bühnen ging, ist im Luzerner Theater angekommen. Orange Peel Global Pop Set und Dubokaj warten mit ihren Beats auf. Bis 4 Uhr in der Früh bleibt das Luzerner Theater ein Hotspot für Tanz.

Edith Arnold

kultur@luzernerzeitung.ch