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Die Rolling Stones knüpfen an die frühen Sechziger an – vermutlich die letzte wirklich fröhliche Epoche der Jugend.
«Nanu», dürfte der Affe gestutzt haben, «warum krümmt sich der Horizont?» Aus einem einfachen Grund: Ham, geboren in Kamerun, war über jeden bisher gewohnten Schimpansen-Orbit hinaus katapultiert worden. Als Passagier von «Mercury-Redstone 2», am 31. Januar 1961.
Der Flug war Teil des Wettlaufs zum Mond. Ham überlebte eine Fliehkraft von 17g plus Wasser in der Kapsel, als sie kurz vorm Versinken im Meer geborgen wurde. Der Schimpanse bekam dafür eine Orange und einen Apfel. Er lebte noch 22 Jahre; sein Körper wurde konserviert. Zwei Monate nach Hams Schütteltour in der Blechdose schossen die Sowjets den ersten Menschen ins All.
Heute wäre Ham Anlass zu einem Shitstorm der Extraklasse, nicht nur unter Tierschützern. Der WWF aber wurde erst ein halbes Jahr nach Hams Drift in eisige Weiten gegründet. Damals gab es noch die Sowjetunion und kein Wort für «Shitstorm», geschweige denn smarte Geräte, um die Wut in die Welt zu blasen. 1961 hatten längst nicht alle Haushalte Telefon. Westeuropa feierte lediglich die Sensation, nach Italien anzurufen, ohne «ein Fräulein» der Vermittlung dafür zu bemühen.
Und doch hat damals alles begonnen, was uns heute um die Ohren fliegt. Als wäre Ham mit seinem Husarenritt unfreiwillig der Pionier gewesen einer Fliehkraft, die in den frühen Sechzigern alle zu erfassen begann, gewiss aber die Jugend, in unterschiedlichen Dosen. Ein Schub, der alle in ungewohnte Sphären trieb, nicht nur zum harmlosen Preis eines Apfels und einer Orange.
Nun, da die Rolling Stones endgültig retour rollen bis zu den musikalischen Anfängen oder Anleihen, kann man die Gelegenheit nutzen, um sich die Jahre 1960 bis 1967 näher anzusehen. Ein Korridor, der sich in einer Art Vorschatten befindet von 1968.
68 – dieses psychedelisch beleuchtete Zeitfenster voller Reliquien, der Nostalgie-Altar der «68er»-Veteranen, soll heiliges aufklärerisches Licht in die Düsternis der Epoche gebracht haben, Frischluft in den Muff von Moral und Talaren. Der Blick auf die Jährchen vor 68 legt einen selten geäusserten Gedanken näher: Am Ende hatte «1968» möglicherweise mehr abgewürgt als «befreit».
Die grossen Chicago-Blues-Idole der Rolling Stones:
Alles bewegte sich im Schatten der Atombombe und der Mauer. Die Bedrohung «heller als tausend Sonnen» war allgegenwärtig. Gleichzeitig vertiefte sich zwischen Ost und West der Graben: «Niemand hat die Absicht, eine Mauer blablabla.» Politiker logen auch schon im prä-faktischen Zeitalter. Wie Walter Ulbricht 1961, der DDR-Staatsvorsitzende. Atombombe und Mauer schienen eine Teilung der Welt zu zementieren, die niemals mehr bröckeln würde.
Aber kontaminierte das damals die Jugend? Die Alten waren guter Dinge. Den Weltkrieg in Erinnerung, deckte zuverlässiger Wohlstand den Albtraum in Schwar-Weiss bald ab mit Kodachrome-Farbe. Man hatte nicht mehr zu wenig und noch nicht zu viel. Das Leben wurde einladend wie Cinemascope, der Sommer italienisch. Die Alten «gönnten sich mal was». Die Jungen frönten unbewusst einem Bohème-Luxus, undenkbar heutzutage: Sie gaben sich gleichgültig gegenüber materiellen Dingen.
Dazu war die Jugend (noch) frei von Schuld und Sühne. Mit einem mässigen Interesse, wie es um die Gefahren der Zeit wirklich stand. Mit flotten neuen Rhythmen, romantisch neuen Wilden aus Literatur und Kino. Nicht zuletzt mit der Aussicht, erotisch weit mehr zu erleben als die Alten, die sich erheblich verspätet, also gleichzeitig mit der neuen Generation, aus ihrer Scham und Tradition, aus dem Korsett der Sitte zu schälen versuchten. Das alles wirkte aufregend und vergnügt wie die Beatles: arglos und übermütig.
Und das Herrlichste von allem: Noch hatte niemand von nichts eine Ahnung. Noch fehlte die Erfahrung, wie teuer man Übertreibungen bald bezahlte. Was sich zuweilen entlud, hatte daneben keinen Zweck. Und war gleichwohl aller Laster Anfang? Selbst wenn es so gewesen wäre, war es eben nur der Anfang.
Es waren Jahre einer aufgewühlten Poesie, mal schmutzig, mal reiner. Erst Ideologisierung, hüben wie drüben, erstickte jene Poesie und drückte für Jahrzehnte das politische und kulturelle Denken in stumpfe, binäre, ausweglose Bahnen. An dieser Verödung kranken wir noch heute.