Mit Bernard Haitink (92) starb ein Jahrhundertdirigent, der trotz prestigeträchtiger Spitzenpositionen im Klassikbetrieb ein Antistar blieb. Dass er bis zuletzt Altersweisheit mit jugendfrischen Impulsen verband, zeigte er nicht zuletzt als Stammgast am Lucerne Festival.
Bis auf den letzten Sitzplatz war der KKL-Konzertsaal gefüllt, vor dem Eingang hielten verzweifelte Fans Kartons auf der Suche nach Tickets hoch, als der Jahrhundertdirigent Bernard Haitink am 6. September 2019 mit 90 Jahren sein letztes Konzert gab. Und mit den Wiener Philharmonikern Bruckners siebte Sinfonie als soghaftes Mysterium entfaltete, in dessen Adagio strahlende Sonnen die Nacht durchbrachen.
Als Schlusspunkt für seine 65 Jahre dauernde Karriere hatte der Holländer nicht Salzburg gewählt, wo er zuvor dirigierte, oder London, wo er zuletzt lebte und jetzt, am Donnerstag, verstorben ist. Nein es musste Luzern sein, wo Haitink – am Vierwaldstättersee – lange Jahre wohnte und am Lucerne Festival seine Karriere mit einem späten Frühling krönte.
Das Konzert wies zugleich auf die Anfänge von Haitink als Dirigent in Amsterdam zurück. Die siebte Sinfonie war die erste von Bruckner, die er mit dem Concertgebouw Orchester aufführte – jenem Orchester, das er 27 Jahre als Chefdirigent prägte und mit dem er vor allem mit Bruckner und Mahler seinen Weltruf begründete. Dieser führte ihn nach 1988 an die Royal Opera in London, das Opernfestival in Glyndebourne sowie zum London Philharmonic Orchestra, der Staatskapelle Dresden und dem Chicago Symphony Orchestra. Zudem war Haitink Ehrenmitglied der Berliner Philharmoniker und des Chamber Orchestra of Europe.
Solch prestigeträchtige Posten an zentralen Schalthebeln des Klassikbetriebs standen in Kontrast zu Haitinks Persönlichkeit, der jedes Stargehabe fernlag. Das zeigte sich bei seinen Auftritten am Pult wie in den Meisterkursen, an denen er am Lucerne Festival jungen Dirigenten die «Kunst des Weglassens» lehrte. «Wenn man jung ist, macht man meistens zu viel», meinte er dazu: «Dirigenten müssen lernen, das Orchester nicht zu stören. So kann Musizieren zu einem gemeinsamen Abenteuer werden. Und das sollte Musik immer sein.»
Zu einem solchen Abenteuer, das ihm nochmals neue Wege als Dirigent eröffnete, fand Haitink mit dem Chamber Orchestra of Europa. Mit ihm, dem «grössten Geschenk» in der Spätzeit seiner Karriere, interpretierte er in langjährigen Zyklen auch am Lucerne Festival Komponisten aus Klassik und Romantik aufregend neu.
So revidierte er mit ungestümen Tempi, lichtem Klang und geschärfter Artikulation das eigene «Middle-of-the-Road»-Beethoven-Bild von einst, wie er selber sagte. Der Brahms-Zyklus profitierte von der Verbindung dieses Orchester-Jungbrunnens mit Haitinks Sinn für weltentrückt-gelassene Ausdruckssphären, der ihn mit Abbado verband. Und es war nicht zuletzt diese Verbindung von Altersweisheit und jugendlicher Entdeckerfreude, die Haitinks Konzerte in den letzten Jahren zu Sternstunden machte.
Im Gespräch über solche Wandlungen konnte er seine «Schüchternheit» durchaus ablegen. So äusserste er sich anlässlich seines 85. Geburtstags gegenüber dieser Zeitung über das Altern. In der Musik spüre er davon nichts, aber im Alltag stelle er Veränderungen fest: «Es kommt vor, dass ich mich an Namen nicht sogleich erinnere, dafür reichen Erinnerungen immer weiter zurück.»
Zum Beispiel bis in die deutsche Besatzung Hollands während des Zweiten Weltkriegs. «Mein Vater erhielt eines Tages ein Formular, auf dem er seine arische Abstammung bestätigen sollte», erinnerte er sich: «Unterschrieb er nicht, gefährdete er als Beamter die Existenz der Familie. Tat er es, musste er sich als Verräter fühlen. Ich sehe ihn noch immer da sitzen, wie er um eine Entscheidung rang.»
Gestorben ist Bernard Haitink am Donnerstag im Alter von 92 Jahren in seinem Haus in London im Beisein seiner Familie.
«Bernhard Haitink , Dirigieren ist eine Rätsel», Gespräche und Essays von Peter Hagmann und Erich Singer. Bärenreiter-Verlag (2019)