Nah, näher, am nächsten: Wie Theaterzuschauer zu Voyeuren gemacht werden

Vom Stilmittel zum notwendigen Übel: Kleine, am Gesicht befestigte Mikroports, die den Ton verstärken, gibt es im Theater schon lange. Aber jetzt boomen sie, in akustisch schwierigen Glaskasten-Inszenierungen.

Valeria Heintges
Drucken
Grosser Glaskasten mit sechs Räumen: Teil des Bühnenaufbaus für das Stück «Hotel Strindberg» am Theater Basel. (Bild: Reinhard Maximilian Werner)

Grosser Glaskasten mit sechs Räumen: Teil des Bühnenaufbaus für das Stück «Hotel Strindberg» am Theater Basel. (Bild: Reinhard Maximilian Werner)

Nora Helmer diskutiert mit ihrem Mann Torvald während einer Party bei Freunden auf der Toilette – und wir sitzen direkt daneben. Ein Strindberg’sches Ehepaar streitet über die Erziehung der Tochter, bis sie ihm an den Kopf knallt, dass die Tochter ohnehin einen anderen Vater habe – und wir sitzen direkt daneben.

In vielen aktuellen Theaterinszenierungen, etwa in Timofej Kuljabins Version von Ibsens «Nora oder Ein Puppenhaus» in der Zürcher Schiffbau-Box oder in Simon Stones «Hotel Strindberg» am Theater Basel, werden die Zuschauer zu Voyeuren. Nur eine Scheibe trennt vom Geschehen, wir sind die Spanner, die ­alles hören, alles sehen, alles verfolgen.

Gutes Theater war immer schon nahe dran an den Menschen auf der Bühne. Aber jetzt rücken sie in einer Mischung aus Nähe und Distanz noch näher heran und werden gleichzeitig mit einer Glasscheibe auf Distanz gehalten. Die Nähe erweist sich als trügerisch – eine sehr aktuelle Aussage in Zeiten der öffent­lichen Privatheit von Social- Media-Kanälen.

Kleine drahtlose Mikrofone sind unerlässlich geworden

Es ist nur einige Jahre her, da wollten die Regisseure die vierte Wand – die zwischen Bühne und Zuschauern – mit allen nur möglichen Mitteln einreissen. Die Schauspieler stiegen scheinbar aus ihren Rollen aus, sprachen die Zuschauer direkt an und stellten an der Rampe ihr Spiel zur Diskussion.

Das ist vorbei, jetzt rollt die Gegenwelle an: Die vierte Wand wird wieder hochgezogen. Stabiler und dicker, als sie je war. Aber eben: durchsichtig. Meistens aus Plexiglas, das auch Schutz bietet, wenn Schauspieler etwa in Simon Stones «Drei Schwestern» in oberen Stockwerken von sich drehenden Häusern agieren müssen. Manchmal sind sie auch nur, etwa in Stefan Puchers «Frankenstein» im Zürcher Pfauen, aus einer Folie, die alles dahinter in Schlieren taucht und verschwimmen lässt.

Dass die Schauspieler trotzdem noch zu hören sind, verdanken wir den Mikroports, kleinen drahtlosen Mikrofonen, von denen wir nur kleine fleischfarbene Drähte sehen, die die Gesichter der Schauspieler zieren und die die Stimmen verstärken. Es gibt sie schon seit 30 Jahren, ursprünglich in Musicals, Kindertheaterstücken oder auf akustisch heiklen Bühnen.

Sie wurden zu den Lieblingen der Regis­seure, weil sie es erlauben, dass Schauspieler auch in intimen Szenen nicht mehr (über-)deutlich sprechen müssen, um verstanden zu werden. Etwa wenn sie in Bergmans «Szenen einer Ehe» am Theater St. Gallen das Getuschel von Diana Dengler und Matthias Albold auch noch übertragen, wenn die beiden längst unter der Bettdecke verschwunden sind. Doch vom Stilmittel sind sie jetzt (wieder) zum notwendigen Übel in akustisch schwierigen Glaskästen geworden.

Für die Tontechniker eine Herausforderung

«Ich würde kein Geld bezahlen für so ein Scheibenstück», sagt Robert Hermann, Leiter der Abteilung Ton/Video am Theater Basel, kategorisch. Das sei «eine Mode, die wieder verschwinden wird». Der Ton klinge doch, als sprächen die Akteure durch die Nase. «Das bekommen sie technisch einfach nicht weg», sagt Hermann. Zudem hätten die ­Zuschauer ein «Störgefühl», weil sie merken würden, dass Ton und Spiel aus unterschiedlichen Richtungen kommen – das Spiel aus dem Glaskasten, der Ton aber aus den Lautsprechern im Saal.

Zürichs Intendantin Barbara Frey sieht die Sache pragmatisch: «Technische Entwicklungen sind am Theater (und in anderen Künsten) – normal und notwendig», antwortet sie schriftlich. «Das ist kein Anlass zur Sorge.» Die Technik sei immer nur dann ein Problem, wenn etwas Grundsätzliches nicht stimme.

«Bei einer gelungenen Arbeit redet man selten gesondert über Technik.»

Doch für Tontechniker bedeuten die Glaskästen-Stücke eine Herausforderung. Ohne Mikrofone in Bodennähe und an der Decke würden die Zuschauer nicht einmal das Rücken eines Stuhls oder das Öffnen einer Tür hören. Sind die Mikroports der Akteure geschlossen, hört man ihr Sprechen nur als Gemurmel.

«Wir fliegen blind und taub durchs Weltall»

«Ich weiss selbst nicht in jedem Moment, ob das Publikum hört, was ich sage», sagt Lisa-Katrina Mayer, die am Schauspielhaus Zürich Nora verkörpert und auch schon in «Eine Version der Geschichte» von Simone Kucher in einem Plexiglaskasten sass. Sie spricht von der «Hermetik» des Kastens, aber auch vom «intimen Spiel» wie «im Brennglas», das er ermögliche. Gewöhnungsbedürftig sei aber, dass die Akteure auch nicht viel vom Publikum hören.

Lisa-Katrina Meyer als Nora im gleichnamigen Stück in der Schiffbau-Box des Schauspielhauses Zürich.

Lisa-Katrina Meyer als Nora im gleichnamigen Stück in der Schiffbau-Box des Schauspielhauses Zürich.

«Wir fliegen blind und taub durchs Weltall», sagt Mayer und lacht. Nach den Vorstellungen gehe sie vor den Kasten zum Publikum und hole sich nach drei Stunden Spiel «wie ein Geschenk» den Applaus ab. Erst rückwirkend merke sie, ob das Wechselspiel zwischen Schauspielern und Publikum funktioniert habe.

Schön, wenn der Regisseur den Stimmen vertraut

Max Rothbart, der in Stones Arbeiten «Drei Schwestern» und «Hotel Strindberg» zu sehen ist, das nach der Wiener Uraufführung jetzt am Theater Basel Schweizer Premiere feiert, kann die Sache lockerer angehen:

«Während der Vorstellung habe ich Zeit, die Zuschauer zu betrachten. Ich höre sie nicht, aber ich sehe, ob sie konzentriert sind oder nicht.»

In «Hotel Strindberg» wird ein grosser Glaskasten mit sechs Räumen auf die Bühne gebaut. Die Szenen in den einzelnen Räumen sind teils unabhängig, teils verwoben und ineinander verschnitten. Über «In-Ear-Mikrofone» bekommen die Akteure direkt ins Ohr gespielt, was in den anderen Glaskästen zu hören ist. «Es ist schön, die Kollegen so nah bei sich zu haben», sagt Rothbart. «Das macht mehr Spass, als in der Garderobe auf den Auftritt zu warten.»

Lisa-Katrina Mayer steckt derzeit in den Proben zu Herbert Fritschs «Totart Tatort». Dieser Regisseur arbeitet immer ohne Mikroports. «Er vertraut unseren Stimmen. Das ist jetzt auch mal wieder ein tolles Gefühl.»

«Hotel Strindberg», ab 16.1.2019 am Theater Basel. «Totart Tatort» ab 22.2.2019 am Schauspielhaus Zürich.