Der russisch-deutsche Pianist Igor Levit spielt am Lucerne Festival Bachs Goldberg-Variationen. Er sagt, wie uns ein solches Gipfelwerk ganz nahe kommt. Und wieso ihn das Festivalthema «Russische Klavierschule» überhaupt nicht interessiert.
Senkrechtstarter, neuer Stern am Pianistenhimmel, Zaubermeister: Wenn die Rede von Igor Levit ist, überschlagen sich Kritiker wie PR-Agenturen. Doch auch jenseits des verbalen Hypes ist der 29-Jährige einer der spannendsten Pianisten seiner Generation. Nun kommt der in Gorki geborene Künstler, der seit 1996 in Deutschland lebt, für ein Rezital mit Bachs Goldberg-Variationen zum Lucerne Festival am Piano.
Bachs Goldberg-Variationen gelten als eine der grössten Herausforderungen der Klavierliteratur – wann hat man die nötige Reife, um sich dieser zu stellen?
Darauf kann ich Ihnen jetzt zwei Antworten geben (lacht). Ich könnte antworten, was einfach ist – nämlich nie! Aber aus meiner Sicht entspricht mehr der Wahrheit: irgendwie immer. Wenn einem das Herz danach ist, soll man dieses Werk erarbeiten, lieben und spielen. Zum jeweiligen Zeitpunkt hat man halt die jeweilige Antwort, die sich dann immer wieder verändert.
Sie hat also nie der Gedanke gepeinigt, noch zu jung zu sein oder sich zu verheben?
Klar kann das passieren, aber ich werde das schon merken und meine Schlüsse daraus ziehen. Aber ich gehe nicht mit einem solchen Sicherheitsdenken an Sachen heran. Mein alter Lehrer Hans Leygraf – Gott hab ihn selig – hat mir Beethovens As-Dur-Sonate zu spielen gegeben, und das ganze Umfeld hat gesagt: Der Alte spinnt und weiss nicht, was er tut, du bist ja erst zwölf – und wir haben es dann Gott sei Dank trotzdem gemacht.
Sie haben die Goldberg- und Beethovens Diabelli-Variationen mit Frederic Rzewskis «The People United» auf CD aufgenommen und halten sie für eines der drei bedeutendsten Variations-Werke. Was hebt sie auf diesen Gipfel?
Diese drei Werke gehen über oberflächliche Fragen hinaus – Fragen nach Werkarchitektur, nach Aufbau und Geschichte, das wissen wir alles. Interessant ist, was das Stück mit uns macht: Was passiert beim Hören und Spielen, welches Miteinander wird da geschaffen, welches Füreinander – und diese Dimensionen sind in den drei Werken ziemlich einmalig, in jedem auf seine eigene Art und Weise.
Wie sehen diese Dimensionen aus?
Die einmalige Dimension in diesen Werken ist, dass es eben um uns geht und dass das in ihnen sehr evident wird. Alle drei machen uns zu Teilnehmern – sei es politisch wie in Rzewskis «The People united», sei es individualistisch wie in den Diabelli-Variationen oder in Form der grossen, allermenschlichsten Fragen wie in den Goldberg-Variationen.
Dazu gehört in der Variations-Form das Prinzip der ständigen Veränderung mit ihren Lebensstationen von Beginn, Reise und Ankommen, wie Sie einmal sagten. Präsentieren Sie das Werk gern in Piano Lectures, um solche Hintergründe zu vermitteln?
Es gibt den schönen Satz: Ich spiele, was Beethoven schreibt – doch was soll das heissen? Die Perspektive soll doch sein: Ich bin derjenige, der Beethoven spielt, und versuche den Text so zu verstehen, wie ich glaube, dass er gemeint sein könnte. Ich bin nicht der Sklave dieses Werkes, aber auch nicht sein Herr. Das Entscheidende ist, das zu kommunizieren und mit dem Publikum zu teilen, das ja wie ich eine Interpretenrolle einnimmt, nur eben nicht am Klavier.
In Berlin sind Sie mit dem deutschen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert der Frage nachgegangen, wie sehr die eigene Autobiografie die Interpretation beeinflusst. Braucht Musik das zusätzliche Wort, um besser verstanden zu werden?
Ich weiss nicht, ob die Musik das braucht – ich brauche es! Mich interessiert bei einem Zuhörer der Mensch dahinter: Das inspiriert mich – und deshalb suche ich diesen Dialog, und zwar mit aller Dringlichkeit und Vehemenz.
Wie beeinflusst Ihre Autobiografie die Interpretation?
Mein tägliches Leben beeinflusst meine Interpretation wie nichts anderes auf der Welt. Was ich sehe oder lese, mit wem ich spreche, wen ich treffe, was ich erlebe und denke – eben das tägliche Leben. Je nach Tag und Verkettung von schönsten und schrecklichsten Zufällen ist das anders. Dann steht plötzlich alles auf dem Kopf.
Sie suchen auch den Brückenschlag zwischen Wort und Musik wie jüngst mit einem Rezital mit Lesung. Braucht die Musik zur Verstärkung zusätzlich das Wort?
Ich muss Sie enttäuschen. Das letzte, woran ich da gedacht habe, ist irgendetwas zu verstärken. In diesem Fall gestaltete ich zusammen mit einem Autor einen Abend – weder der eine noch der andere will etwas verstärken.
Lucerne Festival widmet seinen «Tastentag» der «russischen Klavierschule». Was macht aus Ihrer Sicht deren Geheimnis aus?
Nächste Frage! Nein, keine Ahnung, damit beschäftige ich mich überhaupt nicht.
Sie können also mit dem im Westen so gern gebrauchten Begriff gar nichts anfangen?
Ich kann grundsätzlich mit solchen Begriffen nichts anfangen, denn ich bin ein Verfechter des internationalen Gedankens – da ist die russische Klavierschule kein Thema, das mich auch nur annähernd interessiert.
Stattdessen proben Sie den Brückenschlag zum Jazz – was reizt Sie an diesem Genre?
Ich probiere es regelmässig und scheitere dann. Den Reiz kann ich nicht erklären. Einige Künstler im Jazz gehören zu den bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Thelonious Monk etwa ist eine Persönlichkeit, die mit unglaublicher Härte, Radikalität und Modernität ungeheure Welten eröffnet hat. Nur fühle ich mich immer wie ein Idiot, wenn ich mich hinsetze und versuche sein «Round Midnight» zu spielen und jedes Mal merke: Das ist echt schwer – aber es ist so ungeheuer stark und genial!
Christoph Forsthoff/Hannoverkultur@luzernerzeitung.ch