PIANO-FESTIVAL: Virtuose aus einer Parallelwelt

Standing Ovation für Evgeny Kissin im vollen Konzertsaal: Der russische Pianist eröffnete gestern das Piano-Festival nicht nur als Virtuose.

Urs Mattenberger
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Hohe Kunst: der russische Pianist Evgeny Kissin bei seinem Auftritt im KKL-Konzertsaal. (Bild LF/Peter Fischli)

Hohe Kunst: der russische Pianist Evgeny Kissin bei seinem Auftritt im KKL-Konzertsaal. (Bild LF/Peter Fischli)

Wem gebührt die erste Nacht an einem Piano-Festival, das Stars präsentiert wie Maurizio Pollini, Murray Perahia und Ivo Pogorelich (heute Abend als Ersatz für den erkrankten Grigory Sokolov)? Dieses Jahr lag die Antwort auf der Hand, zeichnet sich doch am Festival mit vielen jüngeren Pianisten ein Generationenwechsel ab. Und da steht der Russe Evgeny Kissin, der das Festival gestern mit seinem Solo-Rezital eröffnete, exakt in der Mitte: als Superstar, der als ehemaliges Wunderkind zwar längst etabliert, mit seinen 42 Jahren aber noch immer so jung ist wie die älteren Vertreter einer neuen Generation, wie am diesjährigen Festival Fazil Say oder Kirill Gerstein.

Dramatischer Melancholiker

Dass Kissin, der seine Auftritte auf rund 40 Konzerte pro Jahr beschränkt, am Mittwoch mit Orchester ein zweites Mal am Piano-Festival auftritt, unterstreicht noch dessen Sonderanspruch im 75. Jubiläumsjahr. Und weil Kissin da mit einem seiner Paradestücke auftritt, Tschaikowskys b-Moll-Klavierkonzert, konnte er sich gestern im Eröffnungskonzert von einer anderen, für Virtuosen seines Schlages eher unerwarteten Seite zeigen: mit Franz Schuberts Sonate in D-Dur D850.

Schon da bewährte sich, dass Kissin zwar ein Virtuose ersten Ranges ist, aber eben kein Exzentriker, der der Gefahr erliegt, Schubert pianistisch überzuinstrumentieren, um ihn interessant zu machen. Anderseits ist die D-Dur-Sonate eines der kantig-vitalsten Werke dieses Melancholikers unter den Komponisten.

So betonte es nur die Dramaturgie des Werks, wenn Kissin im Kopfsatz, aufrauschend aus den Bässen, die Dramatik zu grossen, orchestralen Gesten steigerte, das Werk zum Finale hin aber geradezu gespenstisch ausdünnte und verlöschen liess. Darüber hinaus führte Kissins Klangsinn doch zu pianistischen und anderen Wundern. Da etwa, wo er das Perlen in hohen Lagen wie eine Farbschicht über Mittelstimmen legte oder rhythmisch verschobene Melodien in filigran gewobene Klänge einfügte wie Fremdkörper aus einer Parallelwelt.

Massvolle Virtuosen-Feier

Dass das dennoch quasi eine Sicht von aussen auf Schubert war, wie es eine Konzertbesucherin formulierte, machte erst der zweite Teil deutlich. Hier, in der Innenansicht von Werken von Alexander Skrjabin, war der Pianist in seinem ureigenen Element. Und da war zu hören, wofür viele diesen Pianisten nicht zuletzt bewundern. Schon in der zweiten Klaviersonate war alles da. Zum einen ein prickelnd virtuos gesteigerter Klavierklang, der bei aller Kraftentladung nie bombastisch oder bloss knallig wird und doch den Konzertsaal übermächtig ausfüllte. Zum andern ein kluges Masshalten mit solch hypervirtuosen Kräften, das immer Raum lässt für impressionistische Klangminiaturen und den weit gespannt singenden, ja eindringlich sprechenden Ton.

Wie gelassen Kissin zwischen den Sphären des Grandiosen und Intimen wechselt, bestätigte die Auswahl aus Skrjabins Etuden op. 8. Sie balancierten heftige Attacken und lyrische Verklärung aus und fassten sie – in der Nr. 9 – schlicht hinreissend in eins zusammen. Wie der ganze Abend, so begann und endete auch der Zugabenteil geradezu antivirtuos mit Bach und rauschhaft mit Chopins Polonaise As-Dur zum Schluss.