LIteratur
Schweizer Autorin plädiert für das «Abtragen der Arschlöcher» à la Max Frisch

Die Schriftstellerin Julia Weber plädiert in ihrem neuen Buch «Die Vermengung» für eine neue Literatur der Einfühlsamkeit und Weichheit und misstraut dem kompromisslosen Genie-Kult.

Julian Schütt
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Sie versucht eine neue Literatur der Weichheit und Einfühlsamkeit: Schriftstellerin Julia Weber.

Sie versucht eine neue Literatur der Weichheit und Einfühlsamkeit: Schriftstellerin Julia Weber.

Bild: ORF

Es dominieren gerade die unerträglich harten Fakten des Krieges in der Ukraine. Die 39-jährige Julia Weber aber bevorzugt in ihrem neuen Buch eher die «Weichheit» des Alltäglichen. Ein Weichspüler ist damit nicht gemeint: Bei Weber müssen wir fast auf jeder Seite damit rechnen, dass uns Unvorhergesehenes aus ihrer Wirklichkeit oder aus ihrer witzig wilden Fantasie heimsucht.

Das Buch heisst schlicht «Die Vermengung». Es handelt davon, wie das Leben der Kunst mitspielt und die Kunst dann auch wieder dem Leben. Die Literatur, wie sie Julia Weber und mit ihr immer mehr Autorinnen interessiert, lässt sich vom Leben überraschen und beirren.

Ihre Literatur entsteht also nicht nur nach den reinen Regeln der Kunst oder gar des Storytelling, sondern ebenso nach den Regeln des Lebens. Es vermengen sich Erzählerisches und Essayistisches, Fiktives und Autobiografisches.

Das Buch beginnt damit, dass die Erzählerin schwanger ist und über Kind und Kunst nachdenkt. Sie nimmt eine «gesellschaftliche Meinung» wahr, nach der eine Künstlerin nicht gleichzeitig Mutter sein kann, oder jedenfalls keine gute Mutter. Zuerst gibt es Momente, in denen sie glaubt, sie dürfe ihren Körper, ihre Kunst, ihr eingerichtetes Leben nicht an ein Kind «verlieren». Mit der Zeit findet sie aber die Kraft, ganz anschaulich darzulegen, wie beides sehr wohl zusammengeht. Ihr Buch reduziert sich gleichwohl nicht auf Wickeltisch-Prosa.

Die lange Homestory eines dichtenden Paars

Ich habe mir Julia Weber immer als Schweizer Vorzeigeschriftstellerin vorgestellt: erst das Bieler Literaturinstitut, dann auf Anhieb der Sprung auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises mit ihrem ersten Roman «Immer ist alles schön» (2017). Es entstehen gar Homestorys in ihrer Genossenschaftswohnung, weil sie mit einem anderen bekannten Schriftsteller zusammenlebt, mit Heinz Helle.

Vordergründig liest sich auch «Die Vermengung» wie die lange Homestory einer Literaturfamilie. Darin lerne ich eine Julia Weber kennen, die ihrer Kunst und Karriere gerade nicht alles unterordnet. Vielmehr lässt sie sich auf die Ängste und manchmal surrealen Unwägbarkeiten ein, die das Familienleben mit sich bringt. Plastisch kann uns die Autorin alle möglichen Verwandlungen nahebringen: jene ihres Körpers, der Lust und Sexualität, aber auch des Textlichen.

Zu den faszinierendsten Partien des Buches gehören jene stärker fiktionalisierten Episoden, in denen wir Verarbeitungen von Beobachtungen und Gesprächen wiedererkennen. Wir erleben unmittelbar mit, wie Erlebtes, Gedachtes, Geträumtes sich in die Literatur verselbstständigt.

Schreibt die Autorin über Frauen, wird’s sinnlich

In einigen dieser kursiv gesetzten fiktiven Passagen drückt durch, wie sich die Erzählerin zu Frauen hingezogen fühlt, und wir bestaunen Julia Weber als Meisterin des sinnlichen Schreibens. Einen spannungsvollen Kontrast dazu bilden die zwischenmenschlichen und künstlerischen Auseinandersetzungen mit ihrem Partner.

Für sie wie ihn ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sie trotz Kindern weiter ihre Kunst machen können. «Wir dachten beide, wir seien furchtbar aufgeklärt. Du wahnsinnig offen und ich wahnsinnig emanzipiert», schreibt sie ihm einmal. Inzwischen wüssten sie, «dass wir das nicht sind. Und können Schicht um Schicht unserer Prägung gemeinsam abtragen. Die Räume dessen wachsen lassen, was wir noch sein wollen.» Wir erleben diese Partnerschaft bei unterschiedlichen Pulsausschlägen. Julia Weber beherrscht die Kunst, eine präzise und doch nicht indiskrete Seismografin zu sein, wenn sie von emotionalen Erschütterungen erzählt.

Eine Schriftstellerkollegin äussert im Buch, die Übereinstimmung von Autorin und Figur in einem durchschnittlichen Roman liege bei genau 62,3 Prozent. Eine nicht ganz ernst zu nehmende Bemerkung, die immerhin zart darauf hinweist, wie sehr Julia Weber in ihrem neuen Werk vom Genre der Autofiction beeinflusst ist, aber auch von Autorinnen wie Natalia Ginzburg, von der sie den schönen Satz zitiert: «Es ist alles erfunden, aber die Autobiografie geht durch die Tür hinaus und kommt zum Fenster wieder herein.» Das trifft gewiss auch auf Julia Webers «Die Vermengung» zu.

Die Weichheit soll in der Literatur Königin sein

Was aber ist mit der Weichheit genau gemeint? Es gehe um das Abtragen des Bildes vom Geniekünstler, das Abtragen der Arschlöcher, der kompromisslosen Scheusale à la Kinski, Pasolini, Frisch oder Schlingensief. Es gehe um eine neue Kunst der Einfühlsamkeit, der Fürsorge. «Die Weichheit solle Königin werden», lässt Julia Weber eine Künstlerkollegin ausrufen.

Das kommt wie ein neofeministisches Kulturpamphlet daher, wie man es gewiss nächtelang im Bieler Schreibinstitut diskutiert. Frisch wie Schlingensief, die sich ganz und gar nicht als kompromisslos-genialische Künstler, wenn auch manchmal als Arschlöcher sahen, hätten diese Poetik der Weichheit zweifellos begrüsst. Bei Julia Weber zeigt sich das als die Kunst, durchlässig zu bleiben, versöhnlich gegenüber den scheinbar noch so banalen Alltagsdingen.

Sie gesteht Schwächen ein, sucht allgemein in der Kunst keine reine Vollkommenheit. Eigentlich sei auch ihr Leben es nicht wert, beschrieben zu werden, sagt sie, «was solle man denn auch berichten aus einem solch heilen, verwöhnten schweizerischen Leben».

In ihrem faszinierenden neuen Werk beweist Julia Weber, dass kein Leben zu klein, kein Augenblick zu unbedeutend ist, um Literatur zu werden. Durch das Schreiben erkennt sie in ihrer «eigenen Sinnlosigkeit und Endlichkeit einen Sinn».

Julia Weber: Die Vermengung. Limmat Verlag, 352 Seiten.